100 Meter von der Mauer

Wasili Kusnezow

wurde 1953 in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Mari geboren, schloss sein Studium an der Philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau ab und arbeitete am Institut für Marxismus-Leninismus an der Herausgabe der gesamten Werke von Marx. Er hat einen Doktortitel in Philosophie und arbeitete viele Jahre am Goethe-Institut in Moskau als Leiter der Kulturprogramme.

Philosophische Fakultät der Staatlichen Universität Moskau Anfang der 1970er Jahre

In unserem Kurs an der Universität gab es etwa sechs Deutsche aus der DDR. In den ersten Jahren hatte ich nicht viel Kontakt mit ihnen. Am Ende meines Studiums heiratete eine von ihnen, Rosie, meinen Kommilitonen, einen Deutschen aus Russland, Fjodor Fink. Sie bekamen eine Tochter namens Natascha, wohnten im Studentenwohnheim der Moskauer Staatlichen Universität, und Rosies Schwester Dagmar kam zu ihnen. Ich freundete mich mit ihnen allen an, und wir blieben eine Weile in Kontakt. 

Viele deutsche Studenten fanden Partner und Freunde. Sie trafen sich mit allen

anderen und blieben nur bei einigen Veranstaltungen unter sich. An einem der Blutspendetage wurden uns zum Beispiel 200 Milliliter abgenommen, und sie spendeten freiwillig 400. Das hat uns beeindruckt. Aus dritter Hand erfuhren wir, dass es bei ihnen ganz üblich war und sie es als ihre Pflicht ansahen.

Auch wenn es besondere Anforderungen oder Verbote für die deutschen Studierenden gab, wurden sie während ihres Aufenthalts soweit abgeschwächt, dass man sie gar nicht mehr befolgen musste. Natürlich haben wir uns gegenseitig spontan besucht, aber wenn wir ins Baulager oder auch zum Kartoffelernten gefahren sind, haben sie das vielleicht mit jemandem von ihren Aufpassen abgesprochen. 

Fahrten in die DDR vom Institut für Marxismus-Leninismus

1975 schloss ich mein Studium ab, und mein nächster Kontakt mit der DDR entstand erst, als ich 1977 am Institut für Marxismus-Leninismus zu arbeiten begann. Zuerst lernte ich meine deutschen Kollegen kennen, als sie kamen, um an den Werken von Marx zu arbeiten. Dann fuhr ich 1984 zum ersten Mal nach Berlin, zunächst als Privatperson. Alle Mitarbeitenden des Instituts waren verpflichtet, einen Sprachkurs an der Humboldt-Universität zu absolvieren. Meine Frau, die ich kurz zuvor geheiratet hatte, war bereits auf einem Sprachkurs gewesen und hatte dort gute Kontakte. Und diese erste Reise war natürlich ein sehr intensiver Kontakt mit dem DDR-Leben – mir wurden langsam die Augen geöffnet. 

Es war das Jahr der Olympischen Spiele in Los Angeles, die die Sowjetunion und alle anderen sozialistischen Länder boykottierten, nachdem die westliche Welt 1980 die in Moskau boykottiert hatte. Aber in Berlin gab es westliches Fernsehen, und so konnte ich mir viele Wettkämpfe ansehen. Das war schon ein sehr gutes Zeichen für die Beurteilung der Lebensbedingungen in der DDR.

Wir wohnten damals in einer Gästewohnung an der Universität, und ich wurde gleich gewarnt, dass wir vorsichtig sein sollten, was wir sagen, dass wir alle unter der Kontrolle einer recht freundlichen Frau – ich weiß ihren Nachnamen nicht mehr – einer Stasi-Mitarbeiterin, standen und dass sie darüber berichten würde, wie wir uns verhielten, wen wir besuchten und so weiter. Aber es gab keine Folgen. 

Schon am zweiten Tag waren wir auf einem Bezirksfest. Es war in einem Park in irgendeinem Bezirk in Ost-Berlin, wir kamen dort an und ich war schockiert. Diese meterlangen Grills mit vier oder fünf verschiedenen Arten von Würstchen, Fleisch und anderem Zeug darauf. Es wurde Bier ausgeschenkt, die Leute hatten eine Menge Spaß und alles war sehr gut. Es gab auch Musik, sogar Rock. Für mich war es ungewöhnlich, dass in einem Park, neben traditioneller sozialistischer Kunst, Volksmusik und lyrischen Popsongs auch Rockmusik gespielt wurde. Bei uns war das damals nicht so weit verbreitet. 

1985 bin ich für einen Sprachkurs nach Berlin gekommen. Ich begann, den Alltag, das normale Leben meiner Kollegen in Berlin kennen zu lernen. Ihre Einstellung zum Sport war beeindruckend. Fast jeder Bezirk hatte ein eigenes Schwimmbad, die Kinder gingen dorthin, viele kostenlos. Einer der größten Eindrücke hinterließ natürlich die FKK. Man hat mir viel davon erzählt, und ich beschloss hinzufahren und es mir selbst anzusehen. Meine Aufmerksamkeit fiel sofort auf ein paar unserer Soldaten, die ebenfalls dorthin gefahren sind und mit dem Gesicht nach unten lagen, um ihre Erregtheit zu verbergen, buchstäblich halb im Sand vergraben. 

Das erste Mal, als ich in Berlin Silvester gefeiert habe, war ich bei einem Kollegen aus Ost-Berlin eingeladen, der in der Leipziger Straße wohnte, ganz in der Nähe der Mauer. Und wir gingen mit diesen Raketen raus, wie es sich gehört, stellten leere Flaschen auf und zündeten sie an. Und als es zwölf Uhr war, gingen diese Raketen los und alle fingen an zu schreien, aber plötzlich ging bloß 100 Meter von uns entfernt, auf der anderen Seite der Mauer, ein Meer von Feuer hoch! Wir hatten ein paar mickrige Dutzend Raketen und dort waren es Hunderte. 

Ideologische Verbote in der DDR und in der UdSSR

Die Verbote, die wir in der DDR erlebt haben, waren viel strenger als in der Sowjetunion. Zum Beispiel brachten Ende der 70er Jahre in der UdSSR drei Autoren ein Buch  über die „asiatische Produktionsweise“ nach Marx heraus. Zur gleichen Zeit wurde ein Buch von drei ostdeutschen Autoren zum gleichen Thema veröffentlicht. Der Begriff “asiatische Produktionsweise” tauchte in den ökonomischen Manuskripten von Marx auf, als er das “Kapital” vorbereitete – eine eigentümliche Form der Gesellschaftsordnung, in der sich niemand eines ernsthaften Grades an Freiheit rühmen kann, eine starre Pyramide, in der es nur einen Herrn gibt und alles vom Willen des Herrschers abhängt, der einen jederzeit nicht nur des Eigentums, sondern auch des Kopfes berauben kann. Sowohl unsere Historiker und Soziologen als auch die DDR-Kollegen haben im Laufe ihrer Überlegungen deutliche Hinweise auf die Gemeinsamkeiten zwischen der „asiatischen Produktionsweise“ und der sozialistischen Ordnung, insbesondere in der Zeit des Totalitarismus, gefunden. Die Reaktionen des Zentralkomitees folgten. Unsere haben eins auf die Mütze bekommen in Form einer Vorladung und eines Gesprächs. Die Deutschen bekamen alle Gefängnisstrafen. So unterschiedlich war das. 

Gleichzeitig hat uns auch im alltäglichen Leben niemand verboten etwas zu tun. Jegliches  Institut des Parteisystems war außerhalb der Reichweite des KGB oder der Stasi; sie hatten kein Recht, sich mit uns zu befassen, sie mussten die Erlaubnis des Zentralkomitees einholen, es lag außerhalb ihrer Kompetenz. Wir konnten Deutsche zu uns einladen und sie besuchen; es gab verschiedene Formen der Kommunikation, all das war frei. Es wurden auch Ehen zwischen den Mitarbeitenden unserer Institute geschlossen. Eine meiner Kolleginnen aus Moskau, Tamara, die jüdisch war, lernte in Berlin den Sohn eines Pfarrers kennen und heiratete ihn später. Sie lernten sich nicht durch die Arbeit kennen – er war Musiker. Tamara ging später in die DDR.

Was ziemlich erschreckend war, war die – nennen wir es mal – Doppelzüngigkeit meiner deutschen Kollegen, die, wie wir alle sehr gut wussten, Westfernsehen schauten. Aber praktisch alle, wenn man sie zu Hause besuchte, und vor allem die älteren Genossen, sagten: “Nein, das schauen wir nie.“ Bei meinem ersten Besuch sagte ich: “Oh, es läuft gerade ein Fußballspiel, könnten wir das nicht einschalten?” Und sie sagten: “Was sagst du denn da?!” Diese Dualität von Wahrnehmung und Verhalten war charakteristisch für Menschen, die Mitarbeitende des Instituts für Marxismus-Leninismus des ZK der SED waren. Also für die, die der privilegierten Schicht angehörten. 

Freundschaft und Perestroika

Dieses Problem galt allerdings nicht für diejenigen, mit denen wir befreundet waren. Meine Frau entwickelte ein sehr gutes Verhältnis zu einem Ehepaar. Brigitte, die Frau, arbeitete im Institut und war ihre Kollegin. Ich arbeitete auch dort, aber ich arbeitete am Anti-Düring und sie beschäftigten sich mit der Korrespondenz von Marx. Brigitte und Hermann waren älter als wir, im Alter unserer Eltern, und sie sind leider nicht mehr da. Hermann war während des Krieges Matrose und sein Schiff sank in der Nähe von Norwegen. Gott sei Dank konnte er sich retten. Er war ein unglaublich guter Mensch. Sie hatten eine Tochter. Wir waren mehrere Jahre lang mit ihnen befreundet und erhielten auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unsere Beziehung aufrecht. Wir standen uns sehr nahe, und obwohl Brigitte mit meiner Frau zusammenarbeitete, entwickelten wir nicht nur eine Arbeitsbeziehung, sondern auch eine menschliche Verbindung. 

Wir besuchten uns gegenseitig und unterhielten uns. Hermann erzählte viel über seine Jugend in den 1930er Jahren und seine Beteiligung am Krieg, da es uns sehr interessierte. Natürlich haben wir auch über unsere Eltern erzählt. Wir sprachen auch immer wieder über Politik, vor allem nach 1985, als in unserem Land die Perestroika begann und bei ihnen das Ganze zurückgehalten wurde. Wir diskutierten offen über die Verbote, die in der DDR für die Veröffentlichung der Zeitschriften Sputnik, Moscow News, Moscow Times und Ogonjok galten. Brigitte konnte Russisch lesen, ihre Tochter auch. Und wir versuchten, ihnen sowjetische Zeitschriften mitzubringen, wenn sie uns darum baten.

Jeder, auch ich, hat in der Philosophieschule eine Phase des geistigen Zusammenbruchs und der Krise durchgemacht, entsprechend der Anekdote über das Hören und Sehen, wenn “ich das eine höre und das andere sehe”. Und natürlich musste man eine Antwort auf die Frage finden, wie man mit all dem leben sollte. Mit einer gewissen Menge an Zynismus, der natürlich dabei half in dieser Gesellschaft zu überleben, habe ich mich immer damit beruhigt, dass wir uns nicht direkt mit der Ideologie befassen, sondern mit dem 19. Jahrhundert. Und darüber haben wir mit unseren Freunden aus der DDR ebenfalls gesprochen. Wir haben wahrscheinlich besser als viele andere verstanden, wie weit die politische Praxis unserer Gesellschaften von der Marxschen Idee entfernt war. Wir haben Marx und eine kritische Analyse der Moderne, die natürlich Gegenstand unserer Gespräche war, nicht vermischt. Wir haben diese Dinge einfach ganz klar getrennt: Wir haben mit Dokumenten gearbeitet, mit dem geistigen Erbe der Menschheit, und Marx gehört dazu. Auf der anderen Seite war uns auch klar, dass er zum Kult gemacht wurde – und darüber haben wir natürlich auch gesprochen. Weder von ihrer Seite noch von unserer, weil wir jünger waren, gab es den Versuch, die Diskussion auf ein bestimmtes Thema zu beschränken.

Unerwünschte Wege 2023

Geboren 1939 in Moskau, Musikwissenschaftler. Lebt in Nowosibirsk. In den 70er und 80er Jahren reiste er ausgiebig durch West- und Osteuropa, auch durch die DDR.

Eine Fahrt in die DDR

1982 erhielt ich als Gewinner des sozialistischen Wettbewerbs des Konservatoriums von Nowosibirsk einen Preis: eine touristische Gewerkschaftsreise in die DDR. Diese gewerkschaftliche Gruppe von Kulturschaffenden war sehr bunt zusammengewürfelt. Wir fuhren mit meiner damaligen Frau mit dem Zug von Nowosibirsk nach Brest, dann durch Polen und in Frankfurt an der Oder begann unsere Reise durch Deutschland. Natürlich durch Ostdeutschland: Wir fuhren hauptsächlich durch Thüringen und landeten in Berlin. 

Alla Iwanowna Mamontowa, die Leiterin des Fernsehstudios von Nowosibirsk, war die Gruppenleiterin, und ich galt als recht gesetzestreu, da mein Reisepass bereits Ausreisestempel für Polen, die Schweiz und Westdeutschland aufwies. Das machte mich zu einem außergewöhnlichen Menschen. Als wir in Erfurt waren, stellte ich eine kleine Gruppe von Kollegen zusammen, bat Mamontova um Erlaubnis und wir fuhren nach Eisenach, dem Geburtsort von Johann Sebastian Bach. Ich glaube nicht, dass man mir sonst so etwas erlaubt hätte. Es ist schwer vorstellbar, dass man 1982 einen Stempel in seinem Pass hatte, dass man in der Schweiz oder in Westdeutschland war und nicht dort geblieben ist. 

Wir hatten in unserer Gruppe eine Musikschullehrerin. Sie fuhr in die DDR, weil ihr Bruder, der an der Fakultät für Komponisten des Konservatoriums von Nowosibirsk studiert hatte, in Westdeutschland war. Sie waren ethnische Deutsche, und der Bruder war immer sehr extrem und hatte schon lange davon geträumt, nach Deutschland zu gehen. Er hat es auf eine besondere Art und Weise geschafft: Am Strand von Sotschi wurde er, glaube ich, von einer Frau aus Westdeutschland angesprochen. Sie war wohlhabend, heiratete ihn und nahm ihn  mit nach Deutschland. Und nun sollten sie sich treffen. Als sich unsere Reise dem Ende zuneigte, eilte er über die west- und ostdeutschen Grenzübergänge nach Berlin. Dieses Treffen hat stattgefunden. Zunächst saß unsere Gruppe beim Abendessen an einem langen Tisch und er mit seiner Frau und seinen Kindern am Nebentisch, denn die Lehrerin durfte die Gruppe nicht verlassen und sich zu ihm an den Tisch setzen. Aber von da an ging alles gut, wir kamen alle in sein Zimmer, er spendierte uns Zigaretten und wir unterhielten uns lange. Dann fuhr sie zurück nach Nowosibirsk und er in sein Westdeutschland, aber später  folgte sie ihm – in den 1990er Jahren, oder vielleicht auch später.

Unter anderem wurden wir natürlich in diesen Friedrichstadtpalast geführt, der in der UdSSR sehr beliebt war, weil er regelmäßig in der “Utrennjaja Potschta” (Morgenpost) vorgestellt wurde. Dort gab es ein Tanzensemble. Langbeinige “blonde Bestien” traten sozusagen zum Ruhme des Sozialismus auf. Das haben sie uns live gezeigt. Ich erinnere mich, dass der Programmpunkt einen sehr starken Eindruck auf mich gemacht hat. Sie hatten an irgendeinem abgelegenen Ort in Ostdeutschland einen Mann ausfindig gemacht, der zwei Meter vierzig groß war, und zerrten ihn auf die Bühne. Und so ging es im traditionellen Sinne weiter: Er konnte kaum das tun, was ein normaler Mensch ohne Anstrengung tun würde, und jede seiner Anstrengungen löste Gelächter aus. Der Entertainer schlug ihm zum Beispiel vor, sein Jackett anzuziehen. Es ist ein typisches Spiel mit der Diskrepanz zwischen erwarteten und realen körperlichen Merkmalen. Das Publikum lachte sich kaputt. 

Nina Hagen, Magdi Body (UVR), Manfred Krug und Tatjana Archipowa (UdSSR) im Friedrichstadtpalast in “Guten Abend!” , 1976. Foto: Bundesarchiv

Wir waren in Weimar, einem Ort, der durch Goethes Namen geadelt wurde. Und man erzählte uns aufgeregt, dass in diesem Haus Goethe gelebt hatte und wie er aus diesem Fenster gesprungen und nach Italien geeilt war. Und da ich von Natur aus nicht zurückhaltend bin, sagte ich: “Wissen Sie, ich war in Frankfurt am Main, und ich war in dem Haus, in dem Goethe geboren wurde.“ Warum sollte man diesen Eindruck nicht teilen? Die Frau, sie wird leise. Sie kommt nicht mehr auf mich zu, spricht mich nicht mehr an und so weiter, weil sie merkt, dass ich eine potenzielle Gefahr für sie darstelle. Ich war dort, ich war in der BRD. Es ist eine völlig unkonventionelle Situation. Ich wollte die Freude mit ihr teilen: unser gemeinsamer Goethe, etwas in Frankfurt, etwas in Weimar. Aber sie hat in keiner Weise darauf reagiert. 

Werner

Der Aufstieg auf den berühmten Fernsehturm war unvergesslich. Wir standen auf der Aussichtsplattform und im Nebel sahen wir West-Berlin – den Tiergarten und alles, was wir heute kennen. Besonders beeindruckend war, dass man von der Aussichtsplattform die gesamte Berliner Mauer wie auf einer Handfläche sehen konnte, sie verlief im Zickzack und man hatte einen guten Rundumblick. Und neben uns standen irgendwelche Deutschen. Ich erinnere mich, dass mich eines beschäftigte: was sie sich bei all dem gedacht haben. Hätte man in Moskau oder Nowosibirsk die Stadt in zwei Hälften geteilt, und hätten wir uns jetzt die andere Seite angesehen… Nun, diese Frage bleibt unbeantwortet. 

Blick vom Fernsehturm in Richtung Strasse Unter den Linden (750-Jahr-Feier Berlins, 1987). Foto: WikiMedia.

Wir sind den Einheimischen nicht über den Weg gelaufen, es war so eine touristische Ausgrenzung. Aber es war auf diesem Turm oder irgendwo anders, dass wir einen Deutschen trafen und mit ihm sprachen. Und da ich zu diesem Zeitpunkt bereits Erfahrungen mit meinem Schweizer Freund Tim Guldimann hatte, mit dem ich korrespondierte, der mich besuchte und so weiter, war ich völlig entspannt und ungehemmt im Gespräch mit Ausländern. Wir tauschten unsere Adressen aus. Und dann gab es eine Pause, weil ich Mitte der 1980er Jahre aufgrund meiner persönlichen Umstände keine Zeit für Auslandskontakte hatte. Wenn man schwierige familiäre Umstände hat, wohin kann man ihn dann einladen? Es hatte keinen Sinn. Doch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erwachte der Kontakt wieder, und 1989 war dieser Deutsche zu Gast in meinem Haus.

Bei mir wohnte dieser Deutsche aus der DDR, der nur Deutsch und Englisch sprach. Abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, musste ich mich mit ihm auf Englisch unterhalten, und das war extrem schwierig. Allerdings half mir mein Sohn dabei, der sich oft mit ihm unterhielt – er war bereits von der Armee zurückgekehrt und studierte an der Universität. Ich habe mich erst jetzt an diese Zeit erinnert, als ich von Ihrem Projekt hörte. Leider konnte ich mich nicht an seinen Namen erinnern, bis meine Tochter ihn mir sagte – sie hatte ihr Zimmer an Werner abgetreten und erinnert sich daher besser an ihn. Mein Sohn erinnerte sich auch nicht mehr an seinen Namen und meine Ex-Frau auch nicht. Sie erinnert sich nur noch daran, dass er am letzten Tag vor seiner Abreise gefrühstückt hat: Sie hat etwas auf die Schnelle gemacht, zum Beispiel die Kartoffeln von gestern, und er hat es gierig verschlungen. Und ich kann mich nicht erinnern, ihn irgendwo herumgeführt zu haben. Meistens blieb er zu Hause und liebte das Fernsehen, das damals den Ersten Allunionskongress der Volksdeputierten zeigte. Für diese Zeit war es exklusiv. Er war sehr daran interessiert, amüsiert darüber und man musste ihm ständig erklären, was dort vor sich ging. Wie meinem Stiefvater, der sich Krimis ansah und meine Großmutter immer wieder fragte: “Für wen ist der hier? Wer ist das?” 

Und dann stellt sich noch heraus, dass ich im Jahr 1989 drei absolut glorreiche Auslandsreisen haben sollte. Die erste dieser Reisen führte mich als Teil einer Delegation der Sowjetischen Musikgesellschaft und des Komponistenverbandes in die BRD. Wir sind nach Nordrhein-Westfalen gefahren und haben das ganze Land bereist. Dann hatte ich eine Reise nach Polen. Wir fuhren genau an dem Tag dorthin, an dem “Schwanensee” auf allen sowjetischen Fernsehkanälen lief, weil es im Ural einen schrecklichen Eisenbahnunfall gegeben hatte, bei dem eine Gasleitung explodiert war. Außerdem kamen wir an dem Tag nach Warschau, an dem die Solidarność die Parlamentswahlen gewann. Das bedeutet, dass sich niemand um uns scherte, wir konnten Geld wechseln, so viel wir wollten, jede Art von Überwachung war ausgeschlossen. Sie wussten überhaupt nicht, was sie mit uns machen sollten. Es gab auch eine dritte Reise – wie in einem russischen Märchen – mach Amerika: mit dem Kindertheater aus Nowosibirsk mit einem Stück, das, glaube ich, auf einem Libretto basiert. Deshalb war ich damals nicht sehr an dem Deutschen aus der DDR interessiert.

Ich hatte generell eine Vorliebe dafür, Fremde zu mir einzuladen, das war schon seit meiner Kindheit meine Schwäche. Wir lebten in Minsk und mein bester Freund war der Komponist Serjoscha Cortes. Seine Familie kam nach Minsk, weil sie aus Argentinien repatriiert worden war. Und ich interessierte mich für ihn, ich erinnerte mich für den Rest meines Lebens an das nicht sehr gute Russisch, das die Ausländer sprechen und an Erzählungen aus seinem Leben. Es war schön mit ihnen. Für mich waren sie ganz normale Menschen, und ich hatte keine Vorurteile, ich habe immer Kontakt zu ihnen gesucht.

Später war ich mit einem Kammerorchester in Frankreich, und ein Kollege und ich gingen Pilze suchen und trafen dort ein paar Deutsche, die, wie sich herausstellte, in der DDR geboren waren. Ich habe mich riesig gefreut, und sie hatten große Angst, dass sie es mit Menschen aus der Sowjetunion – jetzt Russland – zu tun hatten. Und sie haben sich quasi geweigert, mit uns zu kommunizieren; es ist kein Kontakt zustande gekommen.

KGB-Kuratoren

KGB-Kuratoren gab es immer. Im Sinfonieorchester wurde er, glaube ich, “der vierte Fagottist” genannt. Denn in einem Orchester durfte es höchstens drei Fagotte geben, und das vierte war sozusagen “außerordentlicher staatlicher Bediensteter”. Und die gab es in der DDR auch. Was ist die DDR? Es ist ein Land “an vorderen Rand”. Ein KGB-Offizier sagte mir: „Weißt du, ich habe dort gedient, und die Ostdeutschen haben eine Besonderheit. Sie sitzen da und hören West-Berlin im Radio oder sehen es im Fernsehen. Wenn es zu dieser Zeit klopft, öffnen sie nie sofort. Sie sagen: ‚Einen Moment‘, dann wechseln sie den Kanal und lassen euch rein.“ Ganz Ostdeutschland lauschte also Westdeutschland. Aus diesem Grund war die Frage nach den Informationen, die aus dem Westen kamen, sehr wichtig. 

Ich habe nichts Verbotenes aus Deutschland mitgebracht, aber in der Schweiz, zum Beispiel, waren wir in der sowjetischen Botschaft in Genf, und man hat uns das Buch “Lenin in der Schweiz” ausgehändigt: ein rotes gebundenes Buch, das Wladimir Lenin mit einem idiotischen Gesichtsausdruck darauf hatte. Ich wanderte umher und sammelte gedruckte Informationen über verschiedene Künstler wie Salvador Dali oder Ernst Klee, englischsprachige Zeitungen, darunter die europäische Ausgabe der New York Times, und so weiter. Und habe alles versteckt – das war natürlich kriminell. Und dann öffnete der Grenzbeamte den Koffer, und da liegt Lenin und schaut ihn an. Auf diese Weise habe ich illegale Waren über die Grenze geschmuggelt.

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023

1957 in Moskau geboren in einer Familie von Germanisten. Er ist Künstler. Anfang der 1990er Jahre mit der Familie nach Helsinki gezogen, wo er noch heute lebt.

Germanisteneltern

Meine Eltern lebten am Ende des Krieges in großer Armut. Sie waren junge Leute, die irgendeine geisteswissenschaftliche Bildung bekommen hatten. Papa hatte sich eigentlich mehr für Geschichte interessiert, aber er musste an ein Institut gehen, das Unterkunft, Kleidung und Essen anbot. Und das war das Militärinstitut für Fremdsprachen. Der deutsche Anteil war natürlich ordentlich, denn es gab einen großen Bedarf an Dolmetschern. Während des Krieges wurden die Studenten schon fast nach dem ersten Jahr aus dem Studium herausgerissen, und auch Papa wurde als Dolmetscher in ein deutsches Kriegsgefangenenlager bei Kowel gesteckt. Dort hat er nichts verstanden. Sie hatten eine gute Lehrerin an der Universität und er konnte Deutsch, aber das Deutsch dort war anders, es war nicht Goethes Sprache, es war Wehrmachtsdeutsch. Und Papa hat es genossen, in das alles einzutauchen, das war seine Universität, da hat er auch diese nachhaltigen Redewendungen gefunden. Ich selbst kenne zum Beispiel eine Menge Wehrmachtslieder, die von Kriegsgefangenen gesungen wurden. Diese Lieder waren meist nicht ideologisch – “Kleine Erika”, “Ich küsse dich auf deinen roten Mund” und so weiter, in einem breiten Strom. Wie kam es, dass beide, Papa und Mama, als Juden die Sprache eines solchen Feindes lernten? Sie waren eher die Ausnahme. 

Sie sind beide 1945 zum Arbeiten nach Deutschland gegangen. Und Papa kam dort in “unerlaubt intensiven Kontakt” mit der Bevölkerung. Ich weiß nicht, was mit “unerlaubt intensiven Kontakt“ gemeint ist, aber ihm wurde von einem Freund, den er in der Sonderabteilung hatte, gesagt, dass er lieber seine Sachen packen und gehen solle, weil sie eine Untersuchung gegen ihn eröffnet hätten. Persönliche und enge Kontakte mit Deutschen waren, wie man weiß, nicht erwünscht – es musste der Dienst ausgeführt und übersetzt werden. Und er hatte sich in diese Sprache mit einer so eigenartigen Liebe verliebt. Er wusste sehr gut über den Holocaust Bescheid, aber er kannte auch den SS-Jargon und alle Befehle, die in den Konzentrationslagern gegeben wurden. 

Als mein Vater als Dolmetscher in einem Lager in der Nähe von Kowel arbeitete, traf er einen deutschen Major, der in Gefangenschaft ein Album mit sich trug, das zum 50-jährigen Jubiläum von Hitler herausgegeben worden war. Ein nummeriertes Exemplar. Und da waren keine typografischen, sondern echte Fotos drin. Mein Vater beschlagnahmte dieses Album, warf es aber nicht weg oder übergab es der Sonderabteilung, sondern behielt es. Offenbar hielt er es für ein absolut erstaunliches anthropologisches Material. Er erzählte, dass es dort Fotos von Hitler aus verschiedenen Jahren gab, einschließlich des Moments, als ihm jemand riet, diese berühmte Pose mit den unten zusammengefalteten Händen einzunehmen. Und alle anderen Deutschen in Führungspositionen fingen auch an, so auf Fotos zu stehen. Wie auch immer, im Zug wurde Papas gesamtes Gepäck gestohlen, zusammen mit diesem Album. Ich glaube, der Dieb war sehr schockiert und hat lange überlegt, wie er es loswerden kann. Er trug die Uniform eines tapferen Leutnants, angeblich ein Frontsoldat, wurde von Offizieren respektiert und stahl. Papa bat ihn, auf seine Sachen aufzupassen, um auf die Toilette zu gehen – der Leutnant würde ihn nicht hintergehen. Tja, und dann war das Sammelalbum weg.

Meine Mama ging an dasselbe Institut. Dort gab es nicht die Regel, dass Frauen nicht genommen werden dürfen, aber sie wurden im Allgemeinen nicht genommen, zumindest versuchte man, sie nicht zu nehmen. Und sie wurde, so wie ich es verstanden habe, genommen, weil sie einen geschlechtslosen Nachnamen hatte, Michelewitsch. So waren also beide da, demobilisiert im Rang eines Oberleutnants, und beide unterrichteten Gott weiß wo. Jedenfalls war Deutsch überall, und in meinem Fall war es ganz offensichtlich “aus reiner Vaterliebe”, ich wollte wie Papa sein. Ich heiße so wie mein Papa, sogar der Vorname ist gleich – er hieß Sascha der Große und ich Sascha der Kleine. 

Unsere Kommunikation mit Deutschland war familiär, sehr intensiv. Ich glaube, Papa war in einer Art Freundschaftsgesellschaft und sogar, glaube ich, nicht nur mit der DDR, sondern auch mit der BRD und West-Berlin, er war ein Gastgeber. Sie kamen zu uns, er empfing sie und fuhr sie herum, aber sie ließen ihn nie aus der DDR heraus, obwohl er Germanistikprofessor war, die deutsche Sprache studierte und seine Dissertation über Redewendungen der deutschen Sprache schrieb. 

Papa hatte Kontakte zu Linguisten in der ganzen DDR, denn er brauchte lebendiges Material – nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus der gesprochenen Sprache. Und er hatte ein Netz von Agenten im Einsatz: Sie versorgten ihn mit Informationen und kamen uns auch besuchen. Aber es war natürlich ein ganz besonderes Spektakel, wenn zum Beispiel ein deutscher Dozent nach Moskau kam und, wie man sagt, päpstlicher war als der Papst. Er stand am Tisch auf und sagte einen Toast auf die Freundschaft zwischen unseren Völkern oder auf die richtige Politik der Partei. So etwas hatte zwischen unseren Wänden noch nie jemand gesagt. Alle waren wie betäubt und wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Das war Ende der 1970er Jahre. 

Außerdem kamen wir in den 1960er Jahren mit einem Verwandten von uns in Deutschland in Kontakt. Genauer gesagt war es ein Verwandter des Mannes meiner Tante, der Schwester meiner Mutter. Sein Name war Rolf Friedmann und er war Künstler in Bautzen, einer mittelalterlichen Stadt im Land der Sorben. Ich glaube, Rolf Friedmann hätte den Nationalsozialisten in seinen Ansichten gepasst, aber als sie Lemberg einnahmen, haben sie als erstes die Archive untersucht – sie hatten offenbar keine anderen Sorgen. Und sie fanden Dokumente, die zeigten, dass Rolf Friedmann jüdisch war. Er wurde nicht inhaftiert, aber ihm wurde verboten zu malen. Jeden zweiten Tag kam ein Polizist vorbei (dies ist eine Familienlegende) und legte seinen Finger auf die Ölgemälde, um zu prüfen, ob die Farbe frisch war. Dabei war es realistische Malerei, keine „entartete“ Kunst. 

Der Sohn von Rolf Friedmann wurde ebenfalls Maler des Realismus. Und auch er sagte all die richtigen Worte, die es sich bei uns zu sagen nicht gehörte. Einmal kam er nach Moskau, es war in der Tauwetterperiode, ich denke mal 1962, und meine Eltern und ihre Freunde nahmen ihn mit, um im Wald Silvester zu feiern. Das war ein Schock für ihn. Es wurde viel getrunken, gefeiert, alle möglichen Witze von unterschiedlichem Grad an Obszönität gemacht, und es wurde sich umgezogen. Er dachte, er sei in einem Irrenhaus, und alle lachten noch lange danach darüber, wie er mit großem Respekt vor dem großen sowjetischen Bruder kam – “Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen” – hier aber auf ein ungeheures Durcheinander, Trunkenheit und Witze gestoßen ist. Und wir besuchten ihn 1976. 

Reisen in der DDR

1976 sind wir mit meinen Eltern in die DDR gefahren. Soweit ich weiß, war das eine Belohnung für mich, weil ich im dritten Anlauf ins Institut gekommen bin. Wir fuhren für einen Monat oder anderthalb Monate weg, besuchten alle Informanten meines Vaters und wohnten bei Rolf in Leipzig. 

Die Reise hat mich natürlich sehr beeindruckt. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich so schüchtern war, aber mir fiel es auch in der Schule schwer, vor einer großen Menschenmenge zu sprechen, selbst vor der Klasse. Obwohl ich, so wie ich es jetzt verstehe, ganz gut Deutsch sprach. Aber hier gab es ständig irgendwelche großen Zusammenkünfte. Und ich glaube, Papa hat die Deutschen absichtlich provoziert, indem er mich ein Gedicht namens “Das war Herr Prunz von Prunzelschütz” zu lesen bat . Ich glaube, es stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert, eine Parodie auf ritterliche Heldengedichte. 

Wir waren damals im Norden, auf Rügen und in Greifswald, in Rostock. Und natürlich haben wir in Berlin gewohnt, und in Dresden, dann im Harz, in Wernigerode, in Quedlinburg.  Königstein ist so ein hoher Steilhang, von dem man weit sehen kann. Ich zeichnete dort alle möglichen Schönheiten, signierte meine Zeichnungen und machte Notizen am Rand. Eines Tages versammelten sich einige Deutsche, um zu beobachten, wie ich zeichne und als wir ins Gespräch kamen, bekam ich ein Kompliment aus dem Publikum: “Wie kamst du darauf Russisch zu schreiben?” Sie hielten mich für einen Deutschen.

Aber eigentlich wurden solche Naturmaler an vielen Orten verjagt in der Sowjetunion. Manche Leute dachten, es sei jemand von den Behörden, andere vermuteten, dass ein Künstler Diebe mit sich bringt. Es ging auch nicht um das Malen, sondern darum, dass man sich lange an einem Ort aufhielt, als ob man beobachten würde. Aber ich habe überhaupt keine Aggression gespürt. Ich bin viel in Russland unterwegs gewesen, ich hatte immer Angst, verprügelt zu werden. Also habe ich mir für russische Verhältnisse verschiedene Überlebensstrategien ausgedacht. Hier waren sie nicht nötig. 

Ich ging mal eine kleine Straße in einer DDR-Kleinstadt entlang, und dort gab es Tavernen, ganz echte, aus den 1930er Jahren, in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Und vor ihnen stand eine Gruppe junger Leute. Da keine Aggression von ihnen ausging, ging ich direkt auf sie zu. Aber in dem Moment, in dem ich vorbeiging, furzten sie alle laut im Chor. Das war aus landeskundlicher Sicht sehr interessant. In Russland wurden Fremde nicht auf diese Weise begrüßt – man konnte dir eins auf’s Maul geben oder das Geld abnehmen, aber so zu furzen war etwas Neues. Ich war gerührt.

Mir ist noch eine andere Reise in die DDR in Erinnerung geblieben, schon in den späten 1980er Jahren, mit meiner Frau Katja zu ihren und nun unseren gemeinsamen Freunden. Bei uns war schon die Perestroika und bei ihnen nicht, und es war eine ganz unikale Geschichte, dass wir etwas durften und sie nicht. Es war sehr seltsam, das zu beobachten. Unsere Freunde waren beide Pastorenkinder und ihre Karrieren in der DDR waren blockiert. Deshalb war es möglich, mit ihnen über alles zu reden. Aber es war trotzdem sehr bizarr.

Unerwünschte Wege 2023

“Wir waren Menschen aus zwei geschlossenen Gesellschaften”

Irina Werschinina und Sergej Werschinin

Germanisten, Übersetzer. Studierten am Institut für Fremdsprachen und verbrachten ein Studienjahr in der DDR.

Sergej Werschinin: Wir haben in Moskau studiert, ich kam 1984 an das Institut für Fremdsprachen, das damals noch Maurice Thorez Moskauer Pädagogisches Institut für Fremdsprachen hieß. 

Irina Werschinina: Ich kam 1986 an das Institut. Unseren Abschluss haben wir dann schon an der Moskauer Linguistischen Universität gemacht. 

Sergej Werschinin: Wir lernten uns kennen, als ich 1987 von Wehrdienst zurückkam. 

Irina Werschinina: Sergej war an der Fakultät für Übersetzung, und ich an der pädagogischen. 

Sergej Werschinin: Der Beruf des Übersetzers galt damals als Männerberuf, man dachte es sei nichts für Frauen – sowohl wegen der Belastung als auch aus politischen, ideologischen Gründen und wegen des moralischen Charakters… Man glaubte, dass Männer stabiler seien als Frauen, die dazu neigten, einen Ausländer zu heiraten und das Land zu verlassen oder alle Geheimnisse zu verraten. Das war die Vorstellung. Deshalb hatten wir nur Mädchen in unserer Gruppe, die irgendwelche besonderen Kontakte in der Uni hatten. Eine von ihnen war die Tochter eines sowjetischen Korrespondenten in der BRD. 

Irina Werschinina: Es war der Beginn der Perestroika. Und Dank dieser Perestroika ist unser Kurs in die DDR gefahren. Es war eine von der Universität organisierte Reise. Davor gab es Studierendenaustausche, aber nur die Besten – Komsomol-Mitglieder, sehr gute Studierende oder so – wurden in die DDR geschickt. In diesem Jahr haben sie alle auf einmal geschickt, den ganzen Kurs. 50 Pädagogen und 20 Übersetzer. Es war das Studienjahr 1988-1989, aber wir haben es nicht ganz bis zum 9. November geschafft. 

Irina Werschinina im Jahr 1989 in Berlin
Foto: Archiv von Werschinin

Sergej Werschinin: Wir fühlten uns damals wie Vertreter eines fortschrittlichen Landes. Die rückständige, konservative DDR befand sich im Vergleich zu uns noch in den starken Armen des Totalitarismus. Die Sowjetunion begann aber bereits zu zittern, und wir fühlten uns wie die Vorboten von etwas Neuem. Wir hatten schon solche Filme – „Der kalte Sommer des Jahres 53“, „Kleine Vera“ und so weiter. Aber bei ihnen war der Film „…und morgen war Krieg“ und die Zeitschrift Ogonjok verboten. 

Irina Werschinina: Ich erinnere mich, dass wir am 7. Oktober 1988 davon aufgewacht sind, dass Panzer die Straße lang rollten. Sie haben eine Parade geprobt. Selbstverständlich war das nichts Besonderes, das gab es bei uns auch. Aber trotzdem war es seltsam, eine Parade in der DDR zu sehen. Bei uns hatte ja bereits die Perestroika begonnen. 

Wir wurden auf drei Universitäten aufgeteilt. Einige gingen nach Berlin, einige nach Leipzig, einige nach Jena. Sergej wurde nach Leipzig geschickt, weil dort die Übersetzer waren. Und ich war in Berlin. Jetzt fährt man eine Stunde von Berlin nach Leipzig, aber damals waren es zweieinhalb Stunden, und wir haben uns fast jedes Wochenende besucht. In Berlin hatten wir eine Drei-Zimmer-Wohnung und eine Gemeinschaftsküche. Und wir wurden so untergebracht, dass wir mit den Deutschen zusammen lebten.

Sergej Werschinin: Wie wir gereist sind wurde nicht kontrolliert. Es gab günstige Tickets mit Studierendenrabatt. Vielleicht mussten die Aufpasser ein Auge auf uns haben, die Anweisungen bestanden weiterhin, aber sie haben da ein Auge zugedrückt. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand etwas von uns verlangt hätte. 

Sergey Werschinin in Leipzig 1989
Archiv von Werschinin

Wir hatten ein Stipendium von 512 DDR-Mark. Das hat trotzdem nicht gereicht. Ich wollte mir normale Kleidung kaufen, Jeans, Pullover, schließlich gab es in der Sowjetunion nichts. Aber wir hatten nicht genug Geld, also haben wir gejobbt. Ich erinnere mich, dass ich nachts Postwaggons entladen habe und dafür 50 Mark pro Schicht bekam. Wir wurden in bar bezahlt, und es gab keinen Papierkram. Irgendjemand von den Einheimischen hatte uns den Tipp gegeben, dann ging jemand von uns als erstes hin, und es wurde sehr beliebt, auch ich ging mehrmals hin. Wir kamen einfach, es waren einige Leute da, eine Menge einheimischer Alkoholiker – es ist ein sehr schmutziger Job. 

Irina Werschinina: Ich habe sehr gerne dort studiert, alles schien so ungewöhnlich, und die Beziehung zwischen den Dozenten und den Studenten war ganz anders. Obwohl es die DDR war und die Dozenten wahrscheinlich Berichte an die Stasi schrieben, wussten wir damals nichts davon. Wir haben es vermutet, aber es wurde nicht besprochen. Aber uns hat es gefallen, dass wir gleichberechtigt und respektvoll behandelt wurden. Als wir das erste Mal kamen, haben wir uns hingesetzt und der Dozentin setzte sich auf den Tisch. Es war informell, wir waren es ja von der Universität so gewohnt, dass der Dozent ein Gott ist.

Sergej Werschinin: Ich habe Deutsch geliebt. Wir hatten viele Kurse für Simultandolmetscher. Uns wurde die Rede von Gorbatschow vorgespielt und wir mussten sie schnell übersetzen. 

Irina Werschinina: Und natürlich hatten wir den Sprachschock, dass wir die Sprache nicht nur in der Universität sprechen konnten, sondern auch mit den Leuten auf der Straße. Die Sprachbarriere war groß. Bei uns im Institut musste man sich schick machen, man musste fast in Abendkleidung kommen. Und als wir dort ankamen, sahen wir Student in Pullovern mit Löchern an den Ellenbogen, und das hat niemanden gejuckt. Für mich waren diese kleinen Momente ein großer Schock. 

Sergej Werschinin: Vor dieser Reise habe ich das erste Mal einen Deutschen 1988 im sogenannten “Freundschaftszug” gesehen. Ich lernte ihn kennen, und es stellte sich heraus, dass er in einem Hotel bei mir in der Nähe wohnte. Wir verabredeten uns zu einem Spaziergang durch Moskau, bei dem ich ihm etwas zeigen würde. Ich war schockiert, dass er nicht fror, obwohl es furchtbar kalt war, und er keine Mütze auf hatte. Ich war furchtbar besorgt, aber er erwies sich als sehr widerstandsfähig und begleitete mich den ganzen Tag. Es war mein erster Kontakt mit einem Ausländer. 

Irina Werschinina: An der Universität hatten die Mädchen von der pädagogischen Fakultät einen Chor. Wir sind mit dem Chor bei den sogenannten „Freundschaftsfahrten“ aufgetreten und durften uns da mit Deutschen unterhalten, aber wir durften ihnen nicht unsere Adresse geben. Uns wurde gesagt, dass man Briefe an die Adresse der Universität schicken könne, und dann würden sie weitergeleitet werden.

Sergej Werschinin: Als ich später in die BRD ging, wurde ich in die erste Abteilung (die Abteilung des KGB) gerufen und erhielt eine Art Anweisung. Ich erinnere mich, dass es ein Briefkopf aus den dreißiger Jahren war, auf dem stand, dass es verboten sei, an Straßenaktionen teilzunehmen und sich in Cafés und Restaurants zu versammeln, wo sich Mitglieder der Weißen Garde versammelten. Das war schon im Jahr 1990. Als  wir in die DDR gefahren sind, mussten wir nichts unterschreiben.

Simone

Irina Werschinina: Wir hatten zwei Mitbewohnerinnen in einem Zimmer, aber irgendwie haben wir uns nicht viel mit ihnen unterhalten, nur über alltägliche Dinge. Simone hatte das andere Zimmer und musste immer durch unser Zimmer durch, welches ein Durchgangszimmer war. Mit ihr haben wir uns angefreundet, sie gab Serjoscha und mir am Wochenende sogar den Schlüssel zu ihrem Zimmer, wenn sie ihre Eltern besuchte. 

Sergej Werschinin: Simone Schatz war ihr Name. Also wie „der Schatz“. Und ich schrieb ihr eine Karte, auf der stand: “Simone, du bist wirklich ein Schatz” – weil sie es uns ermöglicht hat, uns wohlzufühlen.

Irina Werschinina: Natürlich haben Sergej und ich sie nach Moskau eingeladen. Wir waren also schon aus Berlin zurück und waren mit unserer Tochter auf der Datscha, mussten am Sonntag aber wieder zurück. Plötzlich öffneten wir die Tür und da saßen Simone und ihr Freund. Eine Woche nach ihrer Ankunft kam der Brief, in dem sie uns mitteilte, dass sie kommen würde. Sie wunderte sich, dass niemand sie am Bahnhof abgeholt hatte und dass sie selbst zu uns finden mussten. Jedenfalls nahm Papa sie und Sergej mit und sie machten eine Rundfahrt durch Moskau, während Mama und ich alles in Ordnung brachten und was zum Abendessen kochten. 

Simones Freund arbeitete als Klempner in einer sowjetischen Militäreinheit und kannte das Wort „Kompott“. Oma hat ihnen welchen eingeschenkt, und er erklärte Simone, dass es nichts schlimmes sei, dass man es trinken könne. Sie hatten große Angst vor ihnen unbekanntem Essen. Als Oma Sprotten für die Gäste rausholte, waren sie schockiert. Und ich erinnere mich, wie er sie probierte. Er nahm sie auf die Fingerspitzen und sagte: “Ja, das ist in Ordnung.“

Freiheit und Unfreiheit

Sergej Werschinin: Das Gefühl einer geteilten Stadt in Berlin hat mir für den Rest meines Lebens gereicht. Zum einen war da etwas Verbotenes und Verlockendes hinter dieser Mauer, und ich war wahnsinnig aufgeregt und interessiert an diesem völlig anderen Leben. Und ich verstehe, warum ich nicht den Kulturschock hatte, den ich in Westdeutschland hatte: Man hatte immer noch das Gefühl, dass man sich im sowjetischen System befand, das in einigen Bereichen freier und in anderen konservativer war, zum Beispiel im Verhältnis zwischen Regierung und Gesellschaft. 

Gleichzeitig verspürte ich Euphorie über alles, was mit uns geschah, dass wir ein eigenes Leben führten, ohne Mama und Papa, und eigene Entscheidungen trafen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich in der sowjetischen Armee gewesen war, wo ich zwei Jahre auf engstem Raum verbracht hatte. In der DDR empfand ich ein absolut wildes Glücksgefühl, weil ich mich einfach frei bewegen konnte, wo auch immer ich hin wollte.

Wir waren jedoch Menschen aus zwei geschlossenen Gesellschaften, und es gab immer noch keinen sehr herzlichen und freundlichen Kontakt zwischen uns. Ich erinnere mich, dass sich die Leute nur beim Trinken oder bei flüchtigen Kontakten öffneten, zum Beispiel im Zug, wo ich viel Zeit verbracht habe. Ich war also auf dem Weg nach Berlin, und es war bereits das Frühjahr 1989, in der Gesellschaft brauten sich Veränderungen zusammen, es tat sich etwas, aber niemand wusste, wie und wann es enden würde. Und in diesem Moment, denke ich, waren diese Leute ziemlich offen. Sie beklagten sich nicht über einen Mangel an bürgerlichen Freiheiten oder darüber, dass sie unterdrückt wurden. Sie fühlten sich benachteiligt, weil sie zum Beispiel kein Auto oder kein japanisches Radio kaufen konnten, weil sie keine Bananen hatten. Das hat sie sehr wütend gemacht, weil sie gesehen haben, dass hinter dem Zaun, ein paar Meter weiter, ein ganz anderes Leben und eine andere Welt war, wo du aber nicht hingelangen konntest. Und dort gibt es Bananen, Sony-Stereoanlagen und so weiter. Und dass sie nicht reisen konnten, hat sie auch extrem geärgert, weil Verwandte aus der BRD zu ihnen kommen konnten, und es Kontakte und Pakete gab. Ich habe sie selbst gesehen und bewegt, als ich um Weihnachten herum auf dem Postamt gejobbt habe. Und diese Leute haben ganz offen gesagt, sie würden gerne in den Westen gehen, aber sie hatten keine Möglichkeit dazu. Und die Tatsache, dass sie eingesperrt waren, hat sie wahnsinnig wütend gemacht. 

Irina Werschinina: Ich erinnere mich, dass 1987 eine der Fragen bei einer Prüfung in Landeskunde lautete, ob die Wiedervereinigung der DDR und der BRD möglich sei. Und wir mussten antworten, dass das natürlich nicht möglich war, weil es zwei verschiedene Länder waren, zwei verschiedene Völker, zwei verschiedene Systeme und jetzt auch zwei absolut verschiedene Geschichten. Und ich glaube, mit diesem Gedanken sind wir auch in die DDR gegangen. Selbst im April 1989, als ich abreiste, war es unmöglich sich vorzustellen, dass dass das alles zusammenbrechen würde.

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023

1964 in Oranienburg geboren, verbrachte ihre Kindheit in Berlin-Köpenick. Film- und Theaterschauspielerin, Autorin und Regisseurin. Studierte an der Filmuniversität Babelsberg, wo sie eine Regisseurin aus Moskau kennenlernte, mit der sie bis heute befreundet ist.

Meine Eltern haben sich sehr früh scheiden lassen, also lebte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester in einem reinen Frauenhaushalt. Um ehrlich zu sein, wusste ich bis ich 30 war gar nicht wirklich, wer mein Vater ist, weil er nie da war und es keinen Kontakt geben durfte. In meiner Vorstellung war er Musiker, ein Künstler. Er hatte tatsächlich einmal Saxofon gespielt, doch später erfuhr ich, dass er gelernter Tischler war und in einer Holzfabrik irgendwo in Oranienburg gearbeitet hat und keine Musik mehr machte. Meine Mutter hatte mir eine Gitarre gekauft, ich ging sehr früh und lange in eine Musikschule. Die Musik war eine Art geheimes Band zu meinem Vater. Das blieb auch so, als wir nach Köpenick umgezogen sind.

In meiner Oberschule dort hatte ich eine großartige Russischlehrerin. Ich erinnere mich, dass sie wirklich gut war, sehr streng, aber nie emotional. Sie hat viel abgefragt und Kontrollen gemacht, man musste wirklich lernen. Aber wenn es Probleme gab, war sie ganz mild. Es war eine tolle Frau, es machte mir Freude, sie anzugucken und ihr zuzuhören. Ich hatte zum Beispiel eine Physiklehrerin, deren Stimme ich so schlimm fand, dass ich gleich mal nichts gelernt habe. Diese Stimme war unerträglich für mich. 

Die DDR und der Westen

Natürlich war das offizielle Denken geprägt von den Vorgaben der DDR-Regierung. Zudem gab es die noch nahen Erfahrungen der Nachkriegszeit und auch Ressentiments waren gang und gäbe. Russen waren eher Okkupanten. Meine Familie war nicht linientreu. Wir hörten RIAS und waren eher westlich orientiert. Durch das Westfernsehen, also die Medien der Bundesrepublik, nahmen wir auf, was von dort gesendet wurde. In der Schule hatten wir aber Staatsbürgerkunde und lernten politisches Deutsch bzw. wurde es dort abgefragt. Wir waren in dieser Hinsicht das typische Produkt dieser Polarität. Meine Mutter hat mit uns sehr offen darüber gesprochen.

Die ganze weibliche Linie der Verwandtschaft lebte im Westen. Sie kamen eher selten zu Besuch und schickten zu den Feiertagen die typischen Westpakete. Wir durften ja nicht zu ihnen reisen, nur meine Mutter konnte ein paarmal in den Westen fahren, weil eben ihre Mutter dort war. Unsere Verwandten wohnten in West-Berlin im Wedding. Ich erinnere mich an die Geschichte mit dem Friedhof. Ich weiß nicht mehr, wer beerdigt wurde, aber ich erinnere mich, dass sich die Familie zu einer bestimmten Uhrzeit verabredet hatte, um sich zuzuwinken: sie waren auf der einen Seite der Mauer und wir auf der anderen Seite und da war noch der Friedhof. Das ist so ein merkwürdiges Erlebnis, das sich mir tief einprägte. 

Natürlich hörten wir viele schlimme Geschichten über Russen und über die Tragödien, die sie mit sich gebracht haben. Aber das steht für mich in gar keinem Zusammenhang mit den darauffolgenden Freundschaften, die ich mit Russen hatte. Diese Sippenhaft lehne ich ab, denn sonst wäre es unmöglich zu leben. Es ist wichtig, sich mit der eigenen Herkunft der Familien und der Geschichte zu beschäftigen, aber bei persönlichen Beziehungen kommt es immer auf die direkte Begegnung an, und auch auf die Ausrichtung des Menschen. Und es gibt immer die Chemie. 

Die praktische Auswahl des Berufs

In der achten Klasse mussten wir uns schon für einen Beruf entscheiden, also schon wissen, was wir später einmal arbeiten wollen. Das war Stress, denn ich wusste gar nicht, was ich machen wollte, wie viele andere auch nicht. An der Musikhochschule hätte ich studieren können, es gab ein Vorspiel, doch für meinen Jahrgang waren dort zu wenige Schüler angenommen worden. Was also nun? Zuerst habe ich gedacht: „Ich möchte fliegen! Weit wegfliegen, die Welt kennenlernen.“ So kam ich auf Stewardess. Und dann sind wir zum Bewerbungsgespräch nach Schönefeld gefahren und die Chancen standen gut. Am Ende des hoffnungsvollen Gespräches fragte meine Mutter noch: „Wie ist es denn, wenn wir West-Verwandte haben, gibt es da besondere Auflagen?“ Die Antwort war, dass für mich dann natürlich nur noch Inlandsflüge in Frage kommen würden, also innerhalb der DDR. Es sei denn, ich würde mich von meiner Verwandtschaft, die in der BRD lebt, schriftlich distanzieren. Das kam für mich jedoch nicht in Frage. Rein prinzipiell schon nicht.

Später haben wir in der Bahn einen Lachanfall bekommen, weil wir uns vorstellten, wie ich zwischen Leipzig und Rostock hin und her fliegen würde, obwohl ich doch eigentlich die große weite Welt kennenlernen wollte.

Wer Abitur machen wollte, musste sich in der achten Klasse noch nicht für einen Beruf entscheiden, weil man dann bis zur zwölften weiterlernte, also zwei Jahre länger Zeit hatte. Aber in meiner Klasse waren, wie ich sie damals nannte, die Streber, mit denen ich partout nicht auf eine Schule gehen wollte. Mein Klassenlehrer erklärte mir dann, dass – wenn ich nicht auf diese Schule gehen wolle – ich auch eine Berufsausbildung mit Abitur machen könne. Auch meine Mutter wollte das gern. Als Nachkriegsgeneration hat sie eben sehr praktisch gedacht: wenn eine Frau gleichzeitig arbeitet und Abitur macht, ist das gut. So kam ihr wohl die Idee, mich irgendwie auf den Bau zu schicken. Ihr zuliebe bin ich dann zum Vorstellungsgespräch beim „Gerüstbau Mitte“ gegangen. Aber als ich gefragt wurde, ob ich schwindelfrei sei, verneinte ich es sofort und heftig. Damit war ich aus dieser Nummer ‘raus. Meine Idee war es dann, ein eigenes Restaurant leiten zu wollen. Ich dachte, es wäre toll, weil ich mich dann am wenigsten für nur eine Arbeit entscheiden müsste. Ich könnte dort in meinem Restaurant vielleicht eigene Konzerte geben – also Gitarre spielen, singen, mit den Leuten reden, Lesungen machen. Oder ich könnte die Wände nach meinem Geschmack anmalen. Malen mochte ich auch. Vielleicht könnte ich auch mal kellnern oder so. Und dazu würde ich noch Geld verdienen. Das fand ich optimal und bewarb mich dann im Hotel Stadt Berlin am Alex. Da konnte man die Berufsausbildung mit dem Abitur verbinden. Ich wurde dort angenommen.

Schauspielkunst

Die parallele Geschichte ist die, dass wir in der DDR nicht darüber aufgeklärt wurden, dass es auch künstlerische Berufe gibt. In meiner Parallelklasse war aber der Vater einer Schülerin Grafiker und hat angeregt, dass die Schüler informiert werden. Mein Lehrer wusste, dass ich Gitarre spiele und dachte, dass ich Musik studieren möchte, weshalb er mir ein Informationsblatt mit drei Fächern gegeben hat: Bildende Kunst, Musik und Schauspiel. Aber für die Bildende Kunst, dachte ich, reicht es nicht, auf der Musikschule war ich schon und wollte mit Musik auch irgendwie kein Geld verdienen, da blieb Schauspiel eben übrig. Das kannte ich noch nicht. Ich wusste gar nichts darüber, bekam aber dann eine Einladung aus Babelsberg zum Test und wurde angenommen. 

Im Osten waren die Studiengruppen zwar sehr klein, weil ja auch alle einen Arbeitsplatz bekommen mussten. Es gab keinen Überfluss und keine Arbeitslosigkeit in dem Sinne, dass man zu viel ausbildete. Die DDR war klein und alle Stellen waren ausgezählt. Deshalb waren wir dort nur neun Schauspieler. Und als wir während des Studiums Filme drehten, haben wir uns oft selbst um die Geschichten gekümmert und wir haben gesponnen. Und das war das Tolle: Wir waren Studenten in allen Fachbereichen – Filmwissenschaft, Produktion, Kamera, Regie, Schauspiel –  die man zum Filmedrehen braucht. Dadurch waren die Kontakte ganz anders. Das war keine reine Schauspielerinsel! Wir hatten damals eine riesige, wie wir sie nannten, „Bratpfanne“ – einen Studenten Club, wo wir regelmäßig saßen und gesprochen und getrunken und geraucht haben oder eben auch nicht, aber auf jeden Fall haben wir permanent irgendwas gesponnen und uns über Ideen ausgetauscht. Da sind viele Kontakte und Projekte entstanden. Und so haben wir kurze Filme gedreht, die wir dann vorspielten, und uns auch angeguckt, was die anderen da entwickelten.

Ich habe mit meinem Freund André Hennicke, der in meinem Studienjahr studierte, in unseren Filmen immer ein Paar gespielt. Für eine Geschichte reichen ja ein Mann und eine Frau, dann hatten wir in der Regie den Studenten Andreas Höntsch, Tony Loeser war der Kameramann und Christian Stier der Produzent. Also waren wir quasi eine Filmgesellschaft. Und es war ein Dreamteam, wir haben wirklich tolle Sachen gemacht und konnten einander auch sagen, was wir ausprobieren wollten. Wir haben von der Schauspielleitung dafür regelmäßig Tadel bekommen, weil wir Schauspieler nicht zu früh Filme machen durften, um unsere Manierismen nicht zu kultivieren. 

Marina

Dann kam ein nächstes Studienjahr – die Filmhochschule nahm nur alle zwei Jahre neue Studenten auf – und im neuen Jahrgang war Dror Zahavi. Er drehte einen Film, in dem ich auch mitspielte, teils in Babelsberg und teils in Moskau. Und als er im Rahmen eines Hochschulaustausches nach Moskau gegangen ist, bekam er dort Dolmetscher. Die Dolmetscher waren natürlich Studenten, die gut Deutsch konnten. Darunter war Marina, die sich um die deutsche Filmcrew gekümmert hat. Ich war in Moskau zwar nicht dabei, aber sie kamen dann nach Babelsberg zu einem Studentenfilmfest und da lernten wir uns in der „Bratpfanne“ kennen.

Das weiß ich noch, davon habe ich sehr lebendige Bilder im Kopf: eine sehr lustige, emotionale, überbordende Frau, wie ich sie sonst nicht kannte. Es war von Anfang an sehr herzlich zwischen uns, wobei ich gar nicht mehr weiß, wie wir damals weiter kommuniziert haben. Wahrscheinlich schrieben wir einander und telefonierten, aber ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Auf jeden Fall besuchten wir uns, aber sie war öfter hier, weil sie deutsche Freunde hatte und Berlin so sehr liebt. In der DDR-Zeit war ich auch bei ihr in Moskau zu Besuch, da lernte ich die Familie kennen. Sie hat mir eine Einladung geschickt und dann bin ich hingeflogen.

Wir haben nie den Kontakt abgebrochen und ich habe viel von ihr gelernt. Als ich einmal mit dem Vater eines Freundes, der in der Botschaft in Moskau arbeitete, auf dem Arbat verabredet war, wollte Marina mich unbedingt begleiten. „Weil es dort nicht ungefährlich für Frauen ist“, sagte sie. Am liebsten wollte Marina mir diesen Ort gar nicht zeigen, weil es dort Schmuddelecken gibt. Und da bin ich darauf aufmerksam geworden, wie unterschiedlich wir waren. Mich interessiert alles und bei ihr gibt es eine Auswahl von Orten, die man nicht unbedingt sehen muss. Das war neu für mich. Und mir gefiel immer ihre Haltung zu Dingen, also dass sie Grenzen setzen und Sachen ablehnen konnte. Zudem gab es immer eine Art siebten Sinn füreinander, der uns verbindet. Dabei war ich viel sparsamer mit meinen Worten und dem Aussprechen meiner Gefühle. Von Marina habe ich viel gelernt; dass es eben einen emotionalen Vorschuss gibt, den man einander geben kann. Und das habe ich später in dem Film „Godard über Godard“ wiedergefunden, der Liebe beschrieb und sagte: „Liebe ist ein Versprechen, das ich gebe und dann einlösen muss.“ Ich habe während dieser Jahre sehr viel gelernt. 

Interview: Natalia Konradova

Das Interview mit Marina Zurzumia findet sich hier.

Unerwünschte Wege 2023

geboren 1979 in Frankfurt (Oder), lebt in Berlin, Designerin. Ihre Großmutter war Russischlehrer und hatte Kontakt zu verschiedenen Sowjetbürgern vor und nach 1989.

Großvater

Mein Großvater kommt aus aus einem Ort südlich von Königsberg in Ostpreußen, im heutigen Polen. Er ist in den letzten Kriegsmonaten zum Volkssturm eingesetzt worden. Er hat sehr wenig über den Krieg gesprochen. Mir hat er einmal erzählt, wie traumatisch die Zeit für ihn war. Nach wenigen Monaten als Soldat an der russischen Front war er dann in russischer Gefangenschaft in der Nähe von Jaroslawl. Dort musste er im Steinbruch schwer arbeiten. Sie kamen im Wald an, es gab nichts und sie mussten erstmal Unterkünfte zum Schlafen aus Bäumen selbst bauen und das Lager nach und nach. Hier hatte er irgendwie die Möglichkeit dass er heimlich kleine Arbeiten für einen Offizier machen konnte – ich glaube er hat für ihn die Stiefel geputzt – und dafür kam er ein bisschen mehr Essen heimlich, sonst hätte er wahrscheinlich dort gar nicht überlebt. Und hier musste er Russisch lernen, um sich zu verständigen, das hat ihm sehr geholfen. 

Nach 5 Jahren wurde er endlich als Kriegsgefangener freigelassen und kam nach mehreren Tagen Zugfahrt im Transportwaggon mit vielen anderen ehemaligen Häftlingen in Ostberlin, in der neugegründeten DDR an. Er durfte nicht zu seiner Familie, die noch in Ostpreussen war. So war er ganz alleine auf sich gestellt, ohne zu wissen wohin und wie es weitergeht. Die ersten Tage hat er bei der Familie eines anderen Häftlings aus dem Zug geschlafen, dann gab es ein paar Hilfen und er hatte die Möglichkeit in das große Neulehrer-Programm der DDR aufgenommen zu werden und wurde innerhalb von 2 Jahren als Lehrer ausgebildet. Durch die Entnazifizierung in der noch neuen DDR wurden neue Lehrer dringend gebraucht.

Und so ist mein Großvater Lehrer geworden und hat meine Großmutter in einem Lehrerseminar kennengelernt. Später haben beide eine kleine Dorfschule in der Nähe von Frankfurt (Oder) geleitet. 

Großmutter

Meine Großmutter kommt aus einer Gegend südöstlich von Warschau, in der Nähe von Lodz. Ihre Familie lebte bereits seit mehreren Generationen dort, in einem Dorf mit deutschstämmigen Siedlern und Polen, das öfter zu verschiedenen Ländern gehörte. 

Daher hat mein Urgroßvater, der Vater meiner Oma, im Ersten Weltkrieg unter dem Zaren gedient und war mit der russischen Armee bis in der Türkei. Im Zweiten Weltkrieg wurde er für die Deutschen eingesetzt; mit ihm der ältere Bruder, der einzigste Sohn. 

Als 1945 die Front fast vor dem Dorf war, kamen deutsche Soldaten und ordneten an „ihr müsst innerhalb von drei Stunden den Hof verlassen.” Dadurch war die Mutter plötzlich ganz alleine mit drei Mädchen auf der Flucht und meine Oma war die Jüngste von 5 Kindern.

Sie machten sich zu Fuss auf den Weg nach Danzig und wollten mit dem Schiff nach Hamburg, das war die einzigste Option. Tatsächlich kamen sie in Danzig an und wollten mit auf die “Gustloff” und riefen „Nehmt uns mit!“ Dadurch, dass sie nicht mit auf das bereits stark überfüllte Schiff konnten, haben sie zum Glück überlebt und sahen die Tragödie wie das Schiff mit so vielen Flüchtlingen im Hafen sank.

Zweieinhalb Jahre sind sie von Mittelpolen an die Ostseeküste und dann hin und her und wussten auch nicht wohin sie eigentlich können. Nach verschiedenen Stationen in Mecklenburg und Thüringen, kamen sie in Jamlitz, einem kleinen Dorf nördlich von Cottbus an. Ein ganz kleines Dorf, das strategisch gut gelegen war, viel Wald und ein gut ausgebautes Schienennetz. Hier gab es im Wald ein Konzentrationslager, das die Sowjetarmee 1945 befreit hat und dann weiter als NKDW Lager benutzt hat bis 1947.

Meine Großmutter kam mit ihren Schwestern und ihrer Mutter hier auf einen Hof, der wohl als Pferdestall der sowjetischen Offiziere genutzt wurde. Eine große Scheune und eine kleine Hütte mit zwei kleinen Räumen. Später kam dann mein Urgroßvater aus dem Krieg zurück, sie haben sich über das Deutsche Rote Kreuz wiedergefunden, hier hatten sie endlich einen Ort, ein kleines Zuhause mit etwas Land das sie zum Anbauen nutzten.

Wenn ich das richtig verstanden habe, haben meine Großmutter mit ihrer Mutter und den Schwestern auf diesem Grundstück anfangs mit einigen sowjetischen Soldaten gewohnt, die sich m die Pferde gekümmert haben. Ich glaube, das ging so ineinander über und irgendwie haben sie dort Russisch gelernt. Jedenfalls haben meine Großmutter und mein Großvater durch die Kriegszeiten Russisch gelernt. Meine Großmutter, die durch den Krieg nur wenige Jahre in der Schule war, hat eine Lehrerausbildung im Nachbarort Neuzelle begonnen und war die einzigste in der Familie, die einen erlernten Beruf hatte. Von dort zog sie zu meinem Großvater nach Hohenwalde bei Frankfurt an der Oder, wo sie gemeinsam die kleine Dorfschule leiteten. 

In den Siebziger Jahren sind meine Großeltern mit ihren drei Kindern umgezogen nach Berkenbrück, ein Dorf in der Nähe von Fürstenwalde, dort hatten sie ein eigenes Haus gekauft.

Das kleine Dorf liegt noch heute an einer wichtigen, traditionellen Eisenbahnstrecke, die Paris und Moskau miteinander verbindet. Die Schlafzüge haben hier oft auf dem Abstellgleis pausiert und es war immer unser großer Traum, dass wir einmal zusammen, meine Großmutter und ich, nach Moskau fahren. Das war immer ihr Traum, der aber leider nie Wirklichkeit wurde, was wirklich schade ist.

Oft haben wir beim Pilze sammeln im Wald, die Zugwagons auf den Abstellgleisen neugierig bestaunt und die Leute gesehen, die gelangweilt rausguckten. In dieser Zeit hat sich meine Großmutter weiter qualifiziert und Russisch sogar unterrichtet.

Interessant ist, dass meine Großmutter zwar Russischlehrerin war, aber nie die Möglichkeit hatte in die Sowjetunion oder später nach Russland zu Reisen. Trotz ihres Berufes sind beide Großeltern ihrem Glauben treu geblieben und haben sich nicht ideologisch vereinnahmen lassen. Als Neulehrer hatten sie eine wichtige politische Funktion, sozusagen die neue Generation für das neue Weltbild der DDR aufzubauen. Sie haben sich letztlich nie einer Partei angeschlossen und dadurch auch keine Vorteile gehabt, keine Beförderungen oder größere Auszeichnungen, wie in die Sowjetunion zu fahren. Das ist schon schräg.

Meine Großmutter war einfach neugierig und kaum Berührungsängste, so hat sie einfach selbst nach Möglichkeiten gesucht, wo sie Russisch im Alltag sprechen konnte. So wurde sie oft gefragt: „Wir haben eine russische Delegation, kannst du übersetzen kommen?”  Oder wenn sie im Zug oder auf dem Bahnhof Soldaten oder Offiziere traf, hat sie sie einfach auf Russisch angesprochen.

Offiziell war kein privater Kontakt zwischen DDR-Bürgern und Sowjetbürgern erwünscht und die Sprache war auch eine große Barriere, nur wenige konnten Russisch auch wirklich sprechen, trotz jahrelanger Fremdsprache in den Schulen, da es kaum Praxis gab.

Ines

Als Kind machte mir das regelmäßige Kriegsmanöver nachts direkt in den Wäldern hinterm Haus oft Angst. Es hatte für mich etwas sehr bedrohliches.

Ich erinnere mich an die langen Rückstaus durch das ganze Dorf, wenn die Schranken vom Bahnhof geschlossen waren, standen vor unserem Haus Panzer auf Lkws und andere Kriegsmaschinerie. In den Wäldern, wo wir Pilze und Blaubeeren gesammelt haben, sind wir manchmal mitten durchs Manöver gelaufen und tagsüber haben wir als Kinder in den Bunkern gespielt und uns gefreut, wenn wir eine Gasmaske gefunden haben. Und die ewig langen Betonmauern, an denen wir immer in allen größeren Orten vorbeigefahren sind, hinter denen die stationierte Sowjetbevölkerung wie in einer eigenen Stadt, abgegrenzt lebte. Das sind meine Erinnerungen an den Kalten Krieg.

Fürstenwalde war auch eine von diesen Städten, wo 10.000-12.000 sowjetische Soldaten stationiert waren, um den Frieden in der DDR und besonders in Ostberlin zu sichern. Woran ich mich erinnere, sind russische Frauen mit knalligem Lippenstift und viel Parfüm, super schick gemacht, Offiziersfrauen, die sich in der Kreisstadt Fürstenwalde was Schönes geleistet haben. Dazu man muss sagen, den Menschen in der DDR ging es zu der Zeit, Mitte der 80er Jahre besser als in der Sowjetunion, es gab im Vergleich mehr Konsumgüter zu kaufen.

Mit meiner Großtante sind wir manchmal in Jamlitz ins Magazin im Lager im Wald gefahren. Sie hatte sich mit der Verkäuferin schon angefreundet. Dort gab es manchmal ganz interessante Sachen wie Krimsekt oder Mischka Schokolade, die mich natürlich mehr interessierte. Die Verkäuferin durfte meine Tante nicht besuchen, sie konnten sich nur im Magazin oder am See beim Dorf treffen. Dabei ging es um Geschäfte, ich glaube sie hat Goldschmuck verkauft, um sich dann in der DDR wahrscheinlich, sagen wir mal, Schuhe zu kaufen und die dann wieder in der Sowjetunion einzutauschen. Ich habe sogar noch zwei solcher Stücke aus Rotgold von meiner Tante.  

Außerdem kann ich mich noch daran erinnern, dass es ganz viel Zugverkehr gab, weil die  Lager der Sowjetarmee über Güterzüge beliefert wurden. So mussten wir mit dem Auto immer an irgendwelchen Schranken lange warten und ich zählte die Güterwagons mit Kohle, Soldaten, Armee-Autos, Öl, Holz, etc. Ich kann mich daran erinnern wie wir an einem dunklen Winterabend an einer Schranke im Wald standen und dann jemand aus dem Nichts ans Fenster klopfte. Ein russischer Soldat, der nach Zigaretten bettelte. Das war sehr irritierend, weil jeglicher Kontakt war verboten, besonders für die Soldaten und dann die Frage warum er alleine, ausserhalb des Lagers war, ob er vielleicht geflüchtet ist? Dafür gab es sehr hohe Strafen! Ich saß verängstig und neugierig hinten im Auto und mein Stiefvater sagte: „Dir gehts noch schlechter, nimm die ganze Packung”. Man hat auch irgendwie Mitleid mit den Soldaten gehabt. 

Lena aus Kyjiw

In den 90er Jahren hat sich das verändert, die stationierten Sowjetbürger durften sich frei bewegen. In der Zeit hat meine Oma einen russischen Offizier kennengelernt, der an der Spree angelte und dann manchmal vorbei kam. Sehr beeindruckende Goldzähne hatte der. 

Dann lernten wir Viktor und Tanja kennen, ein heute ukrainisches Paar, das in Kyjiw wohnt. Die beiden haben eine Radtour in das nächste Dorf gemacht, um sich die Gegend anzusehen. Un dabei hat meiner Großmutter sie angesprochen „Oh, ihr sprecht Russisch!” Sie kamen öfter am Wochenende vorbei mit ihrer Tochter Lena, die so alt wie ich ist.

Lena hat mich vor einigen Jahren über Facebook angeschrieben, dadurch waren wir in Kontakt. Früher lief alles über meine Oma auf Russisch und ich habe in der Schule nie richtig Russisch gelernt, dass ich es auch hätte sprechen können, trotz der Unterstützung meiner Großmutter. Wir haben uns mit Lena immer zum Geburtstag geschrieben, auf Englisch.

Als der Ukraine-Krieg begann, dachte ich an sie und hab mich gefragt wie es ihnen geht. Und dann habe ich einfach im Messanger gefragt: „Wo seid ihr? Wie geht es euch? Was ist los?” Und dann hat sie mir ein paar Tage später geschrieben „Hallo, schön von dir zu hören. Wir sind in Berlin. Können wir uns treffen?” Das Treffen war natürlich sehr emotional aufgeladen, weil es auch die Geschichte meiner Großeltern und meiner Familie in Erinnerung gebracht hat. Wir trafen uns eine Woche nach Kriegsbeginn am Hauptbahnhof. Werden wir uns Wiedererkennen am überfüllten Bahnhof? Schließlich haben wir uns 20 Jahre nicht gesehen. Und wir haben wir uns tatsächlich gleich wiedererkannt, dass man sich meist doch nicht so viel verändert nach so einer langen Zeit!

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023

Er absolvierte die Bauman-Hochschule und wurde 1982 nach Wünsdorf versetzt, einem sowjetischen Militärlager in der Nähe von Berlin, wo sich das Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland befand. 1991 verließ er die Armee. Seit den 2000er Jahren hält er sich häufig in Deutschland auf, wo seine Tochter mit ihrer Familie lebt.

Ich habe mein Studium an der Baumanka abgeschlossen und abends als Autoreparateur gearbeitet. Eines Tages reparierte ich ein Auto für einen Militärkommissar und er fragte mich: “Welche Ausbildung hast du, Baumansky? Und was machst du hier?” Ich sagte: “Ich verdiene Geld, um meine Familie zu ernähren.“ Er sagte: “Du willst zur Armee?” Ich sagte: “Nur zur guten Armee, ins Ausland.” Das war im Oktober 1981, und ich dachte, ich würde nie in meinem Leben ins Ausland kommen. Wir unterhielten uns, gingen auseinander, und am nächsten Morgen rief er mich an und lud mich ein, die ärztliche Untersuchung zu absolvieren. 

Um nach Deutschland zu kommen, musste man eine Erklärung abgeben, in der man sich bereit erklärte, überall in der Sowjetunion so lange zu dienen, wie es das Vaterland verlangte. Und wenn man die ärztliche Untersuchung nicht bestanden hatte, musste man trotzdem in der Armee dienen, aber innerhalb des Landes. Es war beängstigend, einen Sprung für 25 Jahre zu machen. Vor mir sagte ein Mann, er wolle nach Deutschland gehen. Und sie sagten zu ihm: “Willst du nun zur Armee oder nach Deutschland?” Und sie schickten ihn los, um irgendwo anders als in Deutschland zu dienen. Mich haben sie auch gefragt, wo ich hin will, und ich habe gesagt: “Die Partei sagt: man muss! Komsomol antwortet: zu Befehl!“ Ich wurde genommen. Am fünften Januar 1982 kamen wir in Sperenberg an, in der GSSD. 

Zuerst wurde ich nach Quedlinburg verlegt, wo die Militäreinheit 200×200 Meter im offenen Feld lag. Dann wurde ich nach Wünsdorf verlegt, von wo aus man mit dem Bus in die Stadt fahren konnte. Auch gab es dort ein Restaurant und die Arbeit war interessant – als Hauptmann baute ich einen Gefechtsstand. Es gab fünf Armeen in Wünsdorf, eine riesige Anzahl an Ressourcen für Auskundschaftung und Ortung, und wir haben all das angeleitet. Und da war ich als junger, rotznasiger Junge, der an fast alle Marschälle der Sowjetunion berichtete. 

Ehemalige sowjetische Militärstadt Wünsdorf im Herbst 2022. Foto: Elena Kashirskaya

Die nostalgischen Momente sind für mich realer als das heutige Leben. Ich habe sechs Jahre in Wünsdorf gedient und liebe Deutschland, weil die Dienstzeit interessant und ereignisreich war. Im Kontrast zur Sowjetunion blieb bei mir der Eindruck, dass Deutschland das beste Land der Welt ist. Obwohl ich viel in der Welt herumgekommen bin. 

Als ich 1987 abreiste, war mir klar, dass ich nie wieder zurückkehren würde, aber ich wollte es unbedingt. Wegen der Lebensweise der Deutschen – die Kultur, die Ruhe, die Medizin, überall Ordnung. In der DDR gab es noch mehr Ordnung als heute. Ja, die Kleidung war bescheiden, die Autos einfach, aber die Lebensweise, die sozialen Faktoren und die Garantien… Mein Hund wurde von einem Auto überfahren, ein silberner Pudel mit einem verrückten Stammbaum, der mich anderthalb Gehälter gekostet hatte. Die halbe Abteilung hat aufgehört mit mir zu reden – wie konnte man so viel Geld für einen Hund ausgeben? Und die Deutschen haben ihn behandelt. Ich kam in die Poliklinik – Röntgen, Untersuchung von Urin und Kot. Wo bin ich hier gelandet? Sofort wurde alles gemacht. Bei uns werden nicht mal Menschen so behandelt.

Kommunikation mit Deutschen

Es war uns verboten, mit den Deutschen zu sprechen – wir mussten uns jedes Mal bei den Sonderoffizieren melden. Aber wir durften das Städtchen verlassen, also gingen wir an den Strand und tranken in den Gaststätten. In den Gaststätten gab es Eisbein, kalten Wodka und köstliche Soljanka. Die Beziehungen zu den Einheimischen waren normal, menschlich. Als zum Beispiel in der Sowjetunion die Prohibition eingeführt wurde, es durfte nicht einmal mehr Bier getrunken werden. Am Eingang der Militärstadt wurden die Taschen durchsucht, damit kein Alkohol reingebracht werden konnte. Die Patrouille lauerte am Ausgang des Gasthauses, und der Gastwirt öffnete die Hintertür, damit wir uns aus dem Staub machen konnten. Aber es gab auch Ärger, man konnte in der Kommandantur landen, und dann auf der Parteiversammlung. Aber wir waren jung, das war uns egal. Die Gastwirte sagten, sie würden Gorbatschow ein Denkmal aus Gold bauen – ihre Einnahmen gingen durch die Decke. Auf einmal kamen alle zu ihnen, das Bier floss.  

Eheschließungen mit Deutschen begannen erst nach dem Fall der Mauer, als die Grenze zu West-Berlin geöffnet wurde. Davor haben die Spezialeinheiten einen dafür zurück in die Sowjetunion geschickt. Samstags wurden die Befehle verlesen, und fast alle beinhalteten Vergewaltigungen. Ein Stabsfeldwebel war mit seiner Familie bei einem Grillfest und vergewaltigte dort eine deutsche Frau. Das Opfer erstatteten Anzeige bei der Polizei, die Polizei wandte sich an die GSSD-Führung. Einmal gab es den folgenden Fall: Zwei Soldaten hatten mit einer deutschen Frau Sex nach Absprache; sie sollte dafür eine Kamera bekommen. Als es vorbei war, gaben sie ihr statt der Kamera nur die Kamerahülle. Sie kamen zurück in die Sowjetunion, der eine erhielt acht Jahre Haft, der andere zehn. Manchmal gingen diese Fälle sogar auf die Ebene von Breschnew. 1981 kamen in Plauen vier Männer aus einer Gaststätte, sahen durch ein Fenster eine deutsche Frau, die sich umzog, rannten hinein, einer hielt sie fest, drei vergewaltigten sie. Einer bekam acht Jahre Haft, einer zehn, der dritte zwölf. Derjenige, der die Frau festgehalten hatte, bekam acht Jahre, er war Komsomolleiter der Kompanie. Von Plauen aus schwärmten die Deutschen in die Garnison, Honecker rief Breschnew persönlich an. Solcher Art waren die Kontakte, was soll man sagen. 

Was wäre ein Russe ohne Geschäft?

In Berlin herrschte kein Mangel. Starker Materialismus lag in der Luft. Deshalb war es uns absolut untersagt, Berlin zu besuchen. An allen Bahnhöfen standen bei der Einfahrt in die Stadt Soldaten der Sonderabteilung der Berliner Brigade und zogen russische Frauen aus der Menschenmenge heraus. Es war leicht, sie zu identifizieren – sie waren aufgetakelt, setzten diese Pelzmützen auf… Und wenn sie zum zweiten Mal erwischt wurden, gab es einen Befehl, und die gesamte Familie wurde innerhalb von 24 Stunden in die Sowjetunion zurückgeschickt. Die Kaufsucht hat viele befallen. Ich erinnere mich genau daran, dass die Kinder von Offizieren vor Hunger in Ohnmacht fielen, weil ihre Eltern Geld für Anschaffungen sparten! Es gab ein zweites Gehalt – Marken, um jeden möglichen Unsinn zu kaufen. Sie lebten unter schrecklichen Bedingungen, viele von ihnen hatten nur ein Soldatenbett, einen Nachttisch, einen kaputten Fernseher und das war’s. Aber für Zuhause kauften sie irgendwelche “Madonna”-Geschirrservices, irgendwelche Teppiche, weiche Möbel, “Divandeks” – dünne Decken für ein Sofa; die Armee war verrückt danach. 

Manche Soldaten entfernten sich unerlaubt von der Truppe und stellten verschiedene Sachen an. In den Dörfern legten die Deutschen in den Hausaufgängen Milch und Brötchen aus – und tun das auch heute noch. Warum also nicht loslaufen, um frische Milch und Brötchen zu holen. Oder das 69. Regiment in Wünsdorf kommt von einer militärischen Übung zurück, ein Stabsfeldwebel führt den Lastwagen, hinten sitzen die Soldaten. Der Feldwebel hält auf einem Fahrradparkplatz in Zossen an. Er sagt: “Halt!” Sechs Soldaten springen hinten heraus und schnappen sich den Fahrradständer mit zehn Fahrrädern, packen ihn hinten rein und fahren weiter. 

Und manchmal rannten die Soldaten zur Müllkippe mit dem Müll aus West-Berlin, ungefähr 10 Kilometer von Wünsdorf entfernt. Wenn die Polizei sie erwischt hätte, wären sie in den Knast gekommen. Und da gab es den Otto-Katalog, manchmal Erotikzeitschriften, Technik! Sie reparierten kaputte Technik und brachten sie in die Sowjetunion, wo sie diese dann verkauften. Es durfte kein Bargeld aus dem Land ausgeführt werden, alle versuchten, Geschäfte zu machen. Was ist ein Russe ohne Geschäfte zu machen! 

Iosif Kobson kam jedes Jahr, um im Offiziershaus in Wünsdorf aufzutreten. Die Leute wurden dorthin gezwungen, niemand wollte hingehen. Der Leiter der Handelsverwaltung der GSSD und ich waren gute Bekannte, und als ich zu ihm nach Leipzig kam, um einen Pelzmantel für meine Frau zu kaufen, saß Kobson auch da. Und dann machte dieser Leiter den Lagerraum auf, und der war komplett voll mit Kaminen. Es stellte sich heraus, dass Kobson alle Abteile des Zuges mit Kaminen vollgestopft hatte, die in Deutschland schwer zu bekommen waren. Ein Kamin kostete 200 Rubel, aber er verkaufte ihn für 500 Mark. Von den 500 Mark kaufte er dann eine Strickmaschine, die in der UdSSR 1.500 Rubel kostete. Er hat alles für einen höheren Preis verkauft als es kostete. 

Krieg

Am 22. Februar 2021 brachte meine Frau die Enkelkinder von Moskau nach Berlin. Am 24. Februar, als der Krieg begann, rief mich meine Tochter an: “Sollst Morgen in Berlin sein!“ Und ich sagte: “Ich bin nicht bereit.” Aber ich ließ mein Auto am Flughafen stehen, sie besorgte mir das letzte Ticket für den letzten Flug für 700 Euro und ich flog hin. 

Ich habe einen Geschäftskollegen, der aus Kiew kommt und in Charkiw ein Business hat. Wir telefonierten und er sagte: “Russland war, ist und wird immer sein.” Ich sagte: “Welches Russland?!” Wir gerieten in einen Streit. Ich sagte: “Vitalik, geh vom Podium runter, sonst fällst du!” Aber er ließ sich zu der Frage hinreißen, ob ich denn kein Patriot sei.

Als ich in Deutschland diente, hatte ich sieben Leutnants – Absolventen der Kiewer Ingenieur-Radiotechnischen Militärschule, einer mächtigen intellektuellen Einrichtung. Und jetzt sind sie dort praktisch alle Oberst und kämpfen. Und ich bin mit ihnen befreundet, stehe mit ihnen im Kontakt, jeden Morgen rufen sie mich an und erzählen mir, was passiert ist.

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023

1957 in Moskau geboren, absolvierte eine deutsche Spezialschule und ein Studium an der philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau, lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Helsinki, arbeitet an einer Universität. Linguistin, Spezialistin für Bilingualismus.

Deutsch in der Familie

Meine Oma, die 1906 geboren ist, hat nie gelernt „UdSSR“ zu sagen. Sie sagte immer „Russland“. Die Oma von meinem Freund, den wir in der DDR besuchten, sagte immer „Deutschland“. Und im Nachhinein waren beide ziemlich schlau, denn es hat sich ja auch so entwickelt, dass es immer noch Russland und Deutschland gibt.   

Mein Opa war Deutsch-Balte und in seiner Familie wurde Deutsch, wie er sagte, „aus Spaß“ gesprochen. Diese Familie ist vor langer Zeit nach Russland gezogen, sie hatten unterschiedliche Positionen in der Regierung des Zaren inne und Deutsch war nicht die Hauptkommunikationssprache, wurde aber hin und wieder verwendet. Und mein Opa hat sehr darauf geachtet, dass ich Deutsch lerne. Meine Schrift im lateinischen Alphabet ist bis heute noch besser als meine Schrift im Kyrillischen, weil mein Opa mich jenes gelehrt hat. Meine Oma kam aus einer Familie, in der man den Kindern auch Fremdsprachen beigebracht hat. Sie hatte ein Kindermädchen, das mit ihr Deutsch gesprochen hat und sie Lesen und Sticken lehrte. Sie lebten damals, glaube ich, in Riga und das war auch alles ganz natürlich.

Während des Krieges waren meine Großeltern in der Moskauer Luftabwehr, sie sind nicht in die Evakuierung gegangen. Mein Großvater arbeitete in einer Militärfabrik, und sie waren beide in den Motorradgruppen der Stadtverwaltung – sie waren Motorradfahrer. Meine Mutter war noch klein. Unmittelbar nach dem Sieg kam mein Großvater nach Deutschland, um die Rüstungsfabriken zu übernehmen. Ein Jahr später kamen meine Mutter und meine Großmutter dorthin und blieben bis 1949. Während des Krieges hatten sie gar nichts, weder Essen noch Kleidung, sie waren von großer Armut geplagt, und als sie nach Deutschland kamen, waren sie sehr überrascht, wie die Menschen dort lebten. Aber weil sie Deutsch konnten, hatten sie normale Beziehungen zu den Einheimischen. 

Im Allgemeinen sind die Menschen, die Deutsch konnten, nach dem Krieg in Deutschland gelandet. Mein Großvater, sein Cousin und der Ehemann seiner Cousine haben sich zum Beispiel alle dort getroffen, obwohl sie nicht am selben Ort arbeiteten und ganz unabhängig voneinander dorthin kamen. 

Schule Nummer drei

Ich besuchte die deutsche Spezialschule Nummer drei in der Tschapajewsky-Gasse und ab der zweiten Klasse hatten wir Deutsch. Es hat mir wirklich Spaß gemacht, es zu lernen. Ab der zweiten Klasse wurden wir auf den Kontakt mit Deutschen vorbereitet, die ständig in unsere Schule kamen. Und dann kam eines Tages eine Delegation, in der auch ein DDR-Schriftsteller war. Er brachte einen riesigen Stapel von Postkarten und Briefen aus der Klasse seiner Tochter mit – sie mussten Korrespondenzpartner in der Sowjetunion finden. Wir bekamen alle diese Postkarten, damit wir anfingen zu korrespondieren. Dann wurden die Beschränkungen aufgehoben, aber zuerst mussten wir schreiben, dass unsere Absenderadresse die der Schule war. Soweit ich weiß, registrierte die Schule, dass wir korrespondierten. Aber da war natürlich nichts derartiges, wir konnten in der zweiten oder dritten Klasse gar nicht viel schreiben. 

Da unsere Schule eine der berühmtesten in Moskau war, wurden wir ins Radio eingeladen, wo wir Gedichte vortragen oder Fragen beantworten mussten. Das war Pflicht: Wenn man ausgewählt wurde, ein Gedicht vorzutragen, musste man hingehen, und niemand fragte, ob man das wollte. Nach einem solchen Auftritt erhielt ich einen Brief und ein Päckchen von einer Frau namens Charlotte Jürke. Sie lebte in Weimar und war, wie sich herausstellte, genauso alt wie meine Großmutter und hatte als Kind ebenfalls in Riga gelebt. Meine Stimme erinnerte sie an die ihrer Kindheitsfreundin. Und sie wollte mir unbedingt eine Art Geschenk schicken. Das Paket brauchte sechs Monate, bis es ankam, deshalb waren die Süßigkeiten in einem interessanten Zustand. Außerdem war das Paket mehrmals geöffnet worden, um zu sehen, was drin war. Es war sehr rührend, dass jemand, der mir zuhörte, sich an etwas Gutes, an etwas aus der Kindheit in Riga erinnern konnte, wo es natürlich viele Sprachen gab. Sowohl Deutsch als auch Lettisch und Russisch existierten ganz selbstverständlich nebeneinander. Ich korrespondierte recht lange mit ihr, aber dann wurde sie offenbar ziemlich altersschwach und beschloss, zu ihrer Schwester zu ziehen, die in Westdeutschland lebte. Und dann kamen unsere Briefe nicht mehr an. Vielleicht hat sie etwas geschrieben, aber die Briefe haben mich dann nicht mehr erreicht. 

Außerdem hatte unsere Schule eine Partnerschaft mit der Erich-Weinert-Oberschule in Wiesenburg. Das war ein sehr interessanter Ort, wo die Leute im Internat Russisch lernten. Diese Deutschen kamen ständig in unser Schullager im Bezirk Istrinsky im Moskauer Gebiet. Die Deutschen verbrachten einige Zeit in unseren Zelten, lehrten uns verschiedener Lieder und Spiele, wir organisierten Konzerte. Unsere Schule war früher eine Fliegerschule und sie hatte ein Lager, in dem noch immer Militärzelte standen, und in der Nähe gab es einen Übungsplatz. Diejenigen, die älter waren, hatten dort eine Art Romanze – unsere älteren Jungs mit den deutschen Mädchen. 

Nach der siebten Klasse gingen wir in die DDR. Dort haben sie uns auf alle möglichen Ausflüge mitgenommen, und meine allerliebste Brieffreundin Angela kam extra mit ihrer Mutter, als wir über Weihnachten einen Ausflug machten, um sich mit mir zu treffen. Und so haben wir uns seither getroffen, sowohl in Moskau als auch in Helsinki, und ich war auch zweimal bei ihr zu Hause. Wir korrespondierten bis vor kurzem, wir haben sogar noch E-Mails geschrieben. Aber Papierbriefe waren eine große Sache, denn wir haben immer Postkarten beigelegt. Ich habe noch Aufkleber aus der DDR, nicht alle wurden verwendet.

Dann, als ich schon an der Universität war, und noch mehr in der Aspirantur, kamen die Verbindungen mit Kollegen, die das Gleiche machten wie ich, und dann begannen wir, uns mehr dienstlich zu treffen. Ich studierte an der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität, in der Abteilung für strukturelle und angewandte Linguistik, und interessierte mich für Psycholinguistik. Meine Kollegen arbeiteten damals am Institut für Linguistik der Akademie der Wissenschaften der DDR und kamen oft zum Institut für Linguistik nach Moskau. Wir trafen uns, ich übersetzte ihre Artikel, sie veröffentlichten etwas von mir, wir besuchten uns gegenseitig zu Hause. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands landeten sie in Westdeutschland und luden mich dorthin ein. Ich habe viel am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim gearbeitet. Das heißt, diese DDR-Kontakte bestehen immer noch fort. Jetzt gibt das Institut für Deutsche Sprache das Buch „Geboren in Kasachstan, herangewachsen in Deutschland“ von Katharina Meng und mir heraus.

Eine Beziehung fürs Leben

Im Allgemeinen ist es eine lange Beziehungsgeschichte – das gefällt mir sehr. Ich mag es, wenn Menschen, die in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren, im Laufe des Lebens eine lange Beziehung führen. Es gab zum Beispiel eine junge Frau, die einen deutschen Ruderweltmeister geheiratet hat. Diese Rudermannschaft kam nach Moskau, sie kamen zu uns. Ich hatte damals eine kleine Tochter, und meine Eltern und mein Großvater gingen zu den Wettkämpfen und feuerten diese Mannschaft an. Die Kleidung, die ihre Kinder hatten, gaben sie an meine Kinder weiter. Das heißt, sie brachten mir die Kleidung ihrer Kinder mit in die Sowjetunion, weil sie wussten, dass wir sie nicht hatten. Und dann war ich bei ihnen zu Gast, und von dort aus bin ich durch die ganze DDR gereist, manchmal übernachtete ich im Hotel, manchmal bei Bekannten. 

Dann bin ich ins Schloss Sanssouci gegangen, und es hat sich so ergeben, dass ich kurz vor der Schließung kam. Aber ein einheimischer Touristenführer sah offenbar mein Interesse sowie meine guten Deutschkenntnisse und gab mir eine individuelle Führung. Das war sehr interessant. Wir haben uns gut verstanden, es war seine letzte Führung an diesem Tag, und so machten wir einen Spaziergang durch die Stadt. Und dann wurde eines der Klischees über Deutsche wahr. Er lud mich zu sich nach Hause ein und musste zwei Törtchen kaufen. Seine Mutter war zwar zu Hause, aber er hat kein drittes Törtchen gekauft – er hat genau zwei gekauft. Das würde ich nie tun: Wenn ich nach Hause gehen würde, würde ich viele Törtchen kaufen. Aber in Deutschland kauft man immer so viele Törtchen, wie Personen am Tisch erwartet werden. Das freundschaftliche Interesse aneinander hält bis heute an. Ich habe ihm, während er in der Armee war, Briefe geschrieben. Dann hat er geheiratet und kam uns mit seiner Frau besuchen, und wir freuen uns immer noch über die Gesellschaft des anderen. 

Natürlich gab es auch einige Hindernisse. Zum Beispiel arbeitete meine Mutter am Institut für Biophysik, und zu dieser Zeit durfte man Ausländer nicht zu sich nach Hause einladen. Aber dann, als sie in den Ruhestand ging, durfte man sich wieder besuchen. Uns wurde auch verboten, Ausländer weiter als 30 Kilometer von Moskau entfernt mitzunehmen. Wenn wir ein Auto hatten, brachten wir sie an verschiedene Orte in der Nähe von Moskau. Und mit unseren engsten Freunden unternahmen wir auch einige Fernreisen. Wir fuhren mit den elektrischen Bussen in der Nähe von Moskau ziemlich weit raus, um verschiedene schöne Orte zu sehen. Und damit niemand Verdacht schöpfte, sie seien Ausländer, saßen sie schweigend mit russischen Zeitungen in der Hand. Wir haben uns natürlich verraten, denn wir haben nur gelacht.

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023

1964 in Moskau geboren, Regisseurin und Drehbuchautorin. Absolvierte eine deutsche Spezialschule und anschließend das Staatliche Institut für Kinematographie der Sowjetunion/VGIK (ab 1992: Russlands). Seit ihrer Studienzeit hat sie an internationalen Filmfestivals teilgenommen, unter anderem an der Filmschule in Babelsberg. Sie pflegt noch immer Freundschaften mit ehemaligen Studenten aus der DDR.

Ich besuchte in Moskau die sechsundsechzigste Spezialschule, und unsere Schule hatte ein Austauschprogramm mit Schulen in der DDR. Deutsche Kinder kamen zu uns und wir fuhren dorthin. Meine Verbindungen zur DDR stammen also aus meiner Kindheit. Als die Deutschen in unsere Schule kamen, gingen wir mit ihnen überall hin, und sie waren über vieles überrascht.

Marlboro-Plastiktüte
(Foto: Avito.ru)

Zum Beispiel hatten viele unserer Kinder, die schon Teenager waren, Markenjeans, während es in der DDR keine Jeans gab. Sie durften keine Markenjeans oder schicke Markentüten tragen, die jeder in unserem Land trug, wie Marlboro, Camel und so weiter. Bei uns wurden sie gewaschen und getrocknet, um sie weiter zu tragenbenutzen, aber in ihrem Land war das streng verboten. So wunderte es sie, was für Freiheiten wir hatten und dass wir all das tun konnten. Das war 1979-1980. 

Und dann bin ich zu VGIK gegangen, weil ich Filmregisseurin werden wollte. Meine Verbindungen in die DDR setzten sich fort, weil ich Deutsch konnte. Obwohl wir keine Studenten aus der DDR hatten, hatte das VGIK eine enge Beziehung zur Filmhochschule Konrad Wolf in Babelsberg, die immer noch existiert. Damals gab es so genannte Filmtage – Studentenfilmfestivals. Für diese Festivals wurden Delegationen aus der Sowjetunion ausgewählt. Wir gingen dorthin – zwei oder drei Studenten und zwei Professoren. Das VGIK war bei allen, die für die Verbreitung von Informationen zuständig waren, allgemein verhasst, und dennoch hatten wir dort keine KGB-Leute – offenbar gab es eine interne Disziplin. Auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival 1983 bat mich eine Goskino-Beamtin (Staatliches Komitee der UdSSR für das Filmwesen), in ihrem Zimmer zu übernachten, bevor sie abreiste. Offenbar, damit ich nicht weglaufe. Es hatte so einen Vorfall gegeben.

Natürlich konnte man nicht einfach so in die DDR fahren, das war damals unmöglich. Jeder, der dorthin fuhr, musste vom Komitee des Bezirks Babuschkinskiy befragt werden. Sie fragten, wie viele Parteien es in der DDR gab, wie die Ernte dort ausfiel – na ja, das Übliche eben. Erst danach wurde dir der Vermerk gegeben, dass du fahren kannst.

Als wir studierten, war die Filmhochschule Babelsberg in kleinen Villen untergebracht, auf die die Fakultäten verteilt waren. Das Rektorat befand sich in der Villa, in der Stalin während der Potsdamer Konferenz gewohnt hatte. Hinter einem Vorhang befand sich da die Badewanne, in der er gebadet hatte, und sie wurde allen Gästen gezeigt. 

Ich war vielleicht zwei oder drei Mal auf Festivals und habe mich mit verschiedenen Leuten aus der DDR angefreundet. Wenn man jemanden mag, bleibt man mit ihm oder ihr in Kontakt – und so bleiben wir seit langem in Verbindung. Ich habe einen Freund, der jetzt Professor an einer Filmhochschule ist, ein Dramatiker, den ich bei einem Filmtag kennengelernt habe und wir sind immer noch befreundet. Ich bin auch mit seiner Familie in Kontakt. Meine beste Freundin, die Schauspielerin Annette Kruschke, ebenfalls aus der DDR, arbeitet heute in einem Theater in Kassel. Wir sind sehr eng befreundet. Ich bin sogar Taufpatin ihres Kindes.

Interview: Natalia Konradova

Das Interview mit Annett Kruschke findet sich hier.

Unerwünschte Wege 2023

Germanistin, Pädagogin und Übersetzerin des Deutschen, absolvierte 1981 ein Studium an der philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau.

Studieren in Berlin

Als ich in die fünfte Klasse kam, mussten wir eine Sprache wählen. Zu dieser Zeit schrieb mein Vater seine Dissertation und musste eine Prüfung in Deutsch ablegen. Also entschied ich, dass ich auch Deutsch lernen würde. 

Ich wollte weiter Deutsch lernen und wurde an dem Institut für Romanistik und Germanistik der philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau aufgenommen. Im dritten Jahr wurden wir für Studien in Deutschland ausgewählt. Nur diejenigen, die gute Noten in den sozioökonomischen Fächern und ein Mindestalter von 20 Jahren hatten, wurden zugelassen. Ich habe das Studium nicht direkt nach der Schule angefangen, sondern erst im darauffolgenden Jahr, nachdem ich acht Monate in einer Weberei gearbeitet hatte. Wir mussten ein ganzes Jahr, zwei Semester lang, an der Universität in Berlin studieren. Dies wurde erst am Ende des zweiten Jahres, kurz vor den langen Ferien, bekannt gegeben. 

Das Leben eines sowjetischen Studenten in der DDR

Vor der Reise wurden wir instruiert, wie wir uns bei der Ankunft in der DDR verhalten sollten. Der Ausbilder war irgendein kommunistischer Professor, Wladimir Petrowitsch Nestrojew, ein sehr alter Mann. Er war ein Bauernsohn, ein Kommunist, ein Revolutionär. Ich habe im ersten Jahr meine Hausarbeit bei ihm geschrieben, und er hielt sich für meinen akademischen Leiter. Er sagte mir: “Ja, Olja, da gehen Sie nach Berlin, aber dort kann man ja westliches Fernsehen empfangen. Also sollten Sie nicht fernsehen”. So ein Gespräch hatten wir. Aber da er ein ziemlich unangenehmer Mann war, widerwärtig und ideologisch zugespitzt, habe ich dem einfach keine Aufmerksamkeit geschenkt. Doch ich muss sagen, ich habe nie versucht, westliches Fernsehen zu sehen, wir hatten dort nicht einmal Fernseher. Ich habe das kulturelle Element der DDR gar nicht erkundigt – weder die Liederbücher noch die halbverbotenen aktivistischen Subkulturen. Das war nicht mein Gebiet. 

Überraschend war jedoch die Zurückhaltung der deutschen Studenten, die sich mit uns nicht angefreundet haben, weil wir Ausländer waren. Wie bei allen gefährlichen Ausländern wurde auch für uns keine Ausnahme gemacht. Und außerdem waren sie nicht interessiert. Wir nannten sie heimlich Mäuschen. Auf sich selbst fokussiert, liefen sie am Donnerstag oder Freitag um vier Uhr nach Hause, nahmen den Zug und das Kursbuch – das wichtigste Buch. Wir gingen ins Theater, ins Kino, in Ausstellungen, aber die gingen nirgendwo hin – sie lernten und eilten dann nach Hause. Und dort hatten sie ihre Aufgaben im Haushalt, das war das Wichtigste. Und das war eine verblüffende Entdeckung, auf die ich nicht vorbereitet war: ihre fehlende Bereitschaft, mit uns zu kommunizieren, eine Art Misstrauen. Die Wand war so durchsichtig. 

Es war nicht möglich, einfach so von Berlin nach, zum Beispiel, Erfurt zu fahren. Wir mussten schreiben: “Ich werde nach Erfurt gehen, in diese und jene Straße, in dieses und jenes Haus.“ Was haben wir getan? Wir schrieben: “Ich fahre nach Erfurt, Bahnhofstraße 3” oder “Göthestraße 4”, und jedes Mal war es entweder die Goethe-Schillerstraße oder die Bahnhofstraße – viele Möglichkeiten gab es nicht, wir wechselten uns ab. Aber das war nicht streng geregelt, nur zum Ausfüllen von Mappen, und so kamen wir überall ohne Probleme hin.

Bettina

Im Wohnheim am Prospekt Vernadskogo in Moskau gab es Wohnungenmit zwei oder drei Zimmern. Und im Zimmer nebenan wohnte Bettinka. Es war bekannt, dass sie aus der DDR kam, also eine echte Deutsche war. Und ich erinnere mich, sie noch vor meiner Reise kennengelernt zu haben. Sie saß auf dem Bett und ich kam extra zu ihr. Ich erinnere mich, dass es irgendwie eigennützig war. Ich brauchte eine Person, mit der ich Deutsch sprechen konnte.

Aber es stellte sich heraus, dass sie nach Hause fuhr und erst im Herbst zurückkommen würde. So wäre es schwer sich anzufreunden, aber ich sagte: “Ich fahre auch.” Sie sagte: “Dann komm uns doch mal besuchen.” – “Wo wohnst du denn?” – “In Mühlhausen.” Das klingt so magisch. Wir haben Adressen ausgetauscht. Aber ich war besorgt. Ich mochte sie nicht, weil sie nicht so luftig war wie ich. Ich fragte: “Hast du „Krieg und Frieden“ gelesen?” Sie sagte: “Nein, komm schon. Dort, wo ich jetzt sein werde, in Deutschland, muss ich einkaufen gehen, neue Sachen kaufen, Toilettenpapier aufstocken. Ich habe keine Zeit zum Lesen, es ist ein sehr umfangreiches Buch. Ich habe mir angesehen, worum es geht, und das reicht”. Und sie hat russische Philologie studiert! Ich war völlig verblüfft darüber. Wie kann man Tolstoi nicht lesen? 

Trotzdem wurden sie und ich Freunde. Und vereinbarten, dass ich sie besuchen würde, wenn ich nach Deutschland komme. Ich bin hingefahren, ohne anzurufen oder zu schreiben. Die Aufregung war unglaublich. Ich kam in dieses Haus und alles war geschlossen. Die Nachbarn kamen heraus, haben mich sofort reingelassen, gekreischt, das ganze Haus hat sich versammelt. Es stellte sich heraus, dass Bettina schwanger war und in Moskau geblieben ist. Aber am Abend hatten sie Tische und Stühle aufgestellt, Kuchen gebacken und ein unglaubliches Festmahl zubereitet. “Olga ist da! Bettinas Freundin aus Moskau.” 

Bettina hat im Oktober desselben Jahres in Moskau entbunden. Und ich war an ihrer Stelle und erzählte der Familie, wie es ihr ging. Sie war mit einem sowjetischen Mathematiker zusammen, einem Griechisch-Georgier von unserer Universität. Er kam aus Zalka, da waren Pontier. Er stammte aus diesem Ort und war ebenfalls Student an der Moskauer Universität. Wir nannten ihn Wolodja, und sie nannte ihn Janis, weil er zwei Namen hatte. 

Für mich ist Deutschland seither Bettinas Familie. Es gab viele von ihnen, sie waren freundlich und versammelten sich immer an einem Ort, nämlich im Elternhaus. Ich brachte alle möglichen Geschenke mit – meine Mutter gab sich große Mühe, sie wusste, dass man Baumwolle, Leinen, einige gelbe Kleidung mit Paisleymuster, zarte Zellwolle und die Schokolade „Aljonka“ mitbringen sollte. Dies wurde dankend angenommen, obwohl nicht klar war, warum es notwendig war. Bettinas Vater, Werner, war Mathematiklehrer, und ihre Mutter arbeitete als leitende Angestellte in einer großen Fabrik für Kunstfasern. Morgenmäntel und Pullover aus Glasfaser, unverwüstlich. Ich versuche es wegzuschmeißen, schaffe es aber nicht – zu viele Erinnerungen. 

Bettina lag sehr tapfer im Sterben. Sie hatte die seltenste Form von Krebs, aber sie lebte zwei Jahre lang mit ihm und versuchte alle experimentellen Methoden. Und zwischendurch haben sie und ihr Mann Dieter Last-minute-Trips gekauft und sind viel gereist.  

Essen: Entourage und Raffinesse

Nach dem Studium arbeitete ich als Lehrerin in Krasnojarsk und sah eine Hungerkrise, bei der von allen Lebensmitteln nur zwei verkauft: Blutwurst und eingelegter Seetang. Es gab weder Grütze noch Brot. Und 1978-1979 ging es bereits in diese Richtung, so dass mir das Leben in der DDR wahnsinnig reichhaltig erschien. Bettinkas Mutter hat gut gekocht. Ich sehe immer noch vor meinen Augen, wie ich aufwachte und sie den dicksten Kakao aufbrühte und ihn in einem hohen Strahl in eine schöne Porzellankanne goss und dann aus der Tülle in eine Tasse goss. Das war sehr schön. 

Generell waren viele Eindrücke aus diesem Haus mit Essen verbunden. Der Vater war für das Abendessen zuständig: Er verdünnte Hüttenkäse mit Milch, hackte Zwiebeln hinein, fügte Salz hinzu und gab das Ganze auf Schwarzbrot, das in Dreiecke geschnitten wurde. Er machte viele, viele dieser Brote. Und dann bekamen einige Leute Bier, andere etwas anderes zu trinken, aber wenn ich um Tee bat, waren sie überrascht – damals tranken sie keinen Tee, Bettinka und ich waren die Pioniere. Später habe ich gelesen, dass Tee in den 1960er Jahren noch ein Apothekengetränk war. Und in den 1970er Jahren war es noch nicht üblich Tee zu trinken, es gab keine Teekultur und keine Teekannen – wir brachten sie als Geschenk.

In Bettinas Familie gab es einmal ein festliches Abendessen mit selbstgebackenem Kuchen und Eierlikör, der in kleine, fingerhutgroße, schokoladenüberzogene Waffelschalen gefüllt wurde. Es blieb mir ein Leben lang als etwas unglaublich Raffiniertes und unglaublich Feines in Erinnerung. 

Die Geschichte hat sich vor kurzem fortgesetzt. Bettinas Witwer Dieter, darunter leidend, dass sie gestorben ist, fand das Kochbuch von Bettinas Eltern. Es stammt aus dem Jahr 1979. Ich fragte ihn, ob da Eierlikör drin sei. Er schickte mir eine Seite mit folgendem Inhalt: “Ein Rezept von Großmutter, die 1979 starb, als Bettina in Moskau war und Jana geboren wurde. Geschrieben zu Ehren von Janas Geburt”. So eine Notiz! Es gibt vier Rezepte für Eierlikör, die ich alle in meinem Dorf nachgemacht habe, mit Zitronensaft, mit Alkohol, usw. Und er schrieb mir einen Kommentar zu diesen Rezepten, das das in städtischen eine Rarität war. Ein ganzes Gedicht. Das Rezept enthielt beispielsweise hochprozentigen Alkohol, der von 0,33 Litern auf die Stärke von Schnaps verdünnt wurde. Es stellte sich heraus, dass dieser Alkohol für harte Arbeit in einer gefährlichen Industrie, z. B. in den Minen, gegeben wurde – er war billig, stark, von hoher Qualität und wurde in kleinen Flaschen von 0,33 Litern abgefüllt. Jedenfalls hat es sehr gut geschmeckt. Ich habe meine Freundin vor Ort gezeigt, wie man es zubereitet, und sie brachte mir die Reste. Aber was in den Händen von Bettinas Familie war, war exquisit und wunderbar, sah in einer Literdose widerlich aus…Alles dreht sich um die Entourage! Und für mich war es damals die erste Extravaganz – ungewöhnliche Dinge aus gewöhnlichem Essen.

2022 Euro

Bettina hatte eine fantastische Sprache – sehr raffiniert, komplex verdreht, und sie las viel, aber es fiel ihr schwer zu schreiben. Wir korrespondierten hartnäckig, weil wir verstanden, dass wir in Kontakt bleiben mussten, und dann kam das Telefon und es wurde einfacher. Bettina begann, mehr anzurufen und weniger zu schreiben.  Nur sie rief an, weil sie immer noch wohlhabender war als ich. Während ihrer langen Jahre in der DDR war sie trotz der Entbehrungen und Schwierigkeiten um ein Vielfaches reicher als ich. 

Bettina war immer sehr großzügig zu mir. Sie bezahlte nicht nur meine Flüge, bis ich sie mir selbst leisten konnte, sondern schickte mir auch noch, als sie bereits krank war, einen Umschlag. Darin befanden sich 2022 Euro – eine Menge Geld. Ich wurde damals 60 Jahre alt und sollte das Geld dafür verwenden, das Dorf mit Wasser zu versorgen. Im Februar 2022 musste meine Tochter Polina dringend Moskau verlassen, und sie verwendete das Geld.  Ich finde, dass Bettina Polina mit dem Geld gerettet hat. 

Unerwünschte Wege 2023