Eine Fahrt in die DDR

1982 erhielt ich als Gewinner des sozialistischen Wettbewerbs des Konservatoriums von Nowosibirsk einen Preis: eine touristische Gewerkschaftsreise in die DDR. Diese gewerkschaftliche Gruppe von Kulturschaffenden war sehr bunt zusammengewürfelt. Wir fuhren mit meiner damaligen Frau mit dem Zug von Nowosibirsk nach Brest, dann durch Polen und in Frankfurt an der Oder begann unsere Reise durch Deutschland. Natürlich durch Ostdeutschland: Wir fuhren hauptsächlich durch Thüringen und landeten in Berlin. 

Alla Iwanowna Mamontowa, die Leiterin des Fernsehstudios von Nowosibirsk, war die Gruppenleiterin, und ich galt als recht gesetzestreu, da mein Reisepass bereits Ausreisestempel für Polen, die Schweiz und Westdeutschland aufwies. Das machte mich zu einem außergewöhnlichen Menschen. Als wir in Erfurt waren, stellte ich eine kleine Gruppe von Kollegen zusammen, bat Mamontova um Erlaubnis und wir fuhren nach Eisenach, dem Geburtsort von Johann Sebastian Bach. Ich glaube nicht, dass man mir sonst so etwas erlaubt hätte. Es ist schwer vorstellbar, dass man 1982 einen Stempel in seinem Pass hatte, dass man in der Schweiz oder in Westdeutschland war und nicht dort geblieben ist. 

Wir hatten in unserer Gruppe eine Musikschullehrerin. Sie fuhr in die DDR, weil ihr Bruder, der an der Fakultät für Komponisten des Konservatoriums von Nowosibirsk studiert hatte, in Westdeutschland war. Sie waren ethnische Deutsche, und der Bruder war immer sehr extrem und hatte schon lange davon geträumt, nach Deutschland zu gehen. Er hat es auf eine besondere Art und Weise geschafft: Am Strand von Sotschi wurde er, glaube ich, von einer Frau aus Westdeutschland angesprochen. Sie war wohlhabend, heiratete ihn und nahm ihn  mit nach Deutschland. Und nun sollten sie sich treffen. Als sich unsere Reise dem Ende zuneigte, eilte er über die west- und ostdeutschen Grenzübergänge nach Berlin. Dieses Treffen hat stattgefunden. Zunächst saß unsere Gruppe beim Abendessen an einem langen Tisch und er mit seiner Frau und seinen Kindern am Nebentisch, denn die Lehrerin durfte die Gruppe nicht verlassen und sich zu ihm an den Tisch setzen. Aber von da an ging alles gut, wir kamen alle in sein Zimmer, er spendierte uns Zigaretten und wir unterhielten uns lange. Dann fuhr sie zurück nach Nowosibirsk und er in sein Westdeutschland, aber später  folgte sie ihm – in den 1990er Jahren, oder vielleicht auch später.

Unter anderem wurden wir natürlich in diesen Friedrichstadtpalast geführt, der in der UdSSR sehr beliebt war, weil er regelmäßig in der “Utrennjaja Potschta” (Morgenpost) vorgestellt wurde. Dort gab es ein Tanzensemble. Langbeinige “blonde Bestien” traten sozusagen zum Ruhme des Sozialismus auf. Das haben sie uns live gezeigt. Ich erinnere mich, dass der Programmpunkt einen sehr starken Eindruck auf mich gemacht hat. Sie hatten an irgendeinem abgelegenen Ort in Ostdeutschland einen Mann ausfindig gemacht, der zwei Meter vierzig groß war, und zerrten ihn auf die Bühne. Und so ging es im traditionellen Sinne weiter: Er konnte kaum das tun, was ein normaler Mensch ohne Anstrengung tun würde, und jede seiner Anstrengungen löste Gelächter aus. Der Entertainer schlug ihm zum Beispiel vor, sein Jackett anzuziehen. Es ist ein typisches Spiel mit der Diskrepanz zwischen erwarteten und realen körperlichen Merkmalen. Das Publikum lachte sich kaputt. 

Nina Hagen, Magdi Body (UVR), Manfred Krug und Tatjana Archipowa (UdSSR) im Friedrichstadtpalast in “Guten Abend!” , 1976. Foto: Bundesarchiv

Wir waren in Weimar, einem Ort, der durch Goethes Namen geadelt wurde. Und man erzählte uns aufgeregt, dass in diesem Haus Goethe gelebt hatte und wie er aus diesem Fenster gesprungen und nach Italien geeilt war. Und da ich von Natur aus nicht zurückhaltend bin, sagte ich: “Wissen Sie, ich war in Frankfurt am Main, und ich war in dem Haus, in dem Goethe geboren wurde.“ Warum sollte man diesen Eindruck nicht teilen? Die Frau, sie wird leise. Sie kommt nicht mehr auf mich zu, spricht mich nicht mehr an und so weiter, weil sie merkt, dass ich eine potenzielle Gefahr für sie darstelle. Ich war dort, ich war in der BRD. Es ist eine völlig unkonventionelle Situation. Ich wollte die Freude mit ihr teilen: unser gemeinsamer Goethe, etwas in Frankfurt, etwas in Weimar. Aber sie hat in keiner Weise darauf reagiert. 

Werner

Der Aufstieg auf den berühmten Fernsehturm war unvergesslich. Wir standen auf der Aussichtsplattform und im Nebel sahen wir West-Berlin – den Tiergarten und alles, was wir heute kennen. Besonders beeindruckend war, dass man von der Aussichtsplattform die gesamte Berliner Mauer wie auf einer Handfläche sehen konnte, sie verlief im Zickzack und man hatte einen guten Rundumblick. Und neben uns standen irgendwelche Deutschen. Ich erinnere mich, dass mich eines beschäftigte: was sie sich bei all dem gedacht haben. Hätte man in Moskau oder Nowosibirsk die Stadt in zwei Hälften geteilt, und hätten wir uns jetzt die andere Seite angesehen… Nun, diese Frage bleibt unbeantwortet. 

Blick vom Fernsehturm in Richtung Strasse Unter den Linden (750-Jahr-Feier Berlins, 1987). Foto: WikiMedia.

Wir sind den Einheimischen nicht über den Weg gelaufen, es war so eine touristische Ausgrenzung. Aber es war auf diesem Turm oder irgendwo anders, dass wir einen Deutschen trafen und mit ihm sprachen. Und da ich zu diesem Zeitpunkt bereits Erfahrungen mit meinem Schweizer Freund Tim Guldimann hatte, mit dem ich korrespondierte, der mich besuchte und so weiter, war ich völlig entspannt und ungehemmt im Gespräch mit Ausländern. Wir tauschten unsere Adressen aus. Und dann gab es eine Pause, weil ich Mitte der 1980er Jahre aufgrund meiner persönlichen Umstände keine Zeit für Auslandskontakte hatte. Wenn man schwierige familiäre Umstände hat, wohin kann man ihn dann einladen? Es hatte keinen Sinn. Doch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erwachte der Kontakt wieder, und 1989 war dieser Deutsche zu Gast in meinem Haus.

Bei mir wohnte dieser Deutsche aus der DDR, der nur Deutsch und Englisch sprach. Abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, musste ich mich mit ihm auf Englisch unterhalten, und das war extrem schwierig. Allerdings half mir mein Sohn dabei, der sich oft mit ihm unterhielt – er war bereits von der Armee zurückgekehrt und studierte an der Universität. Ich habe mich erst jetzt an diese Zeit erinnert, als ich von Ihrem Projekt hörte. Leider konnte ich mich nicht an seinen Namen erinnern, bis meine Tochter ihn mir sagte – sie hatte ihr Zimmer an Werner abgetreten und erinnert sich daher besser an ihn. Mein Sohn erinnerte sich auch nicht mehr an seinen Namen und meine Ex-Frau auch nicht. Sie erinnert sich nur noch daran, dass er am letzten Tag vor seiner Abreise gefrühstückt hat: Sie hat etwas auf die Schnelle gemacht, zum Beispiel die Kartoffeln von gestern, und er hat es gierig verschlungen. Und ich kann mich nicht erinnern, ihn irgendwo herumgeführt zu haben. Meistens blieb er zu Hause und liebte das Fernsehen, das damals den Ersten Allunionskongress der Volksdeputierten zeigte. Für diese Zeit war es exklusiv. Er war sehr daran interessiert, amüsiert darüber und man musste ihm ständig erklären, was dort vor sich ging. Wie meinem Stiefvater, der sich Krimis ansah und meine Großmutter immer wieder fragte: “Für wen ist der hier? Wer ist das?” 

Und dann stellt sich noch heraus, dass ich im Jahr 1989 drei absolut glorreiche Auslandsreisen haben sollte. Die erste dieser Reisen führte mich als Teil einer Delegation der Sowjetischen Musikgesellschaft und des Komponistenverbandes in die BRD. Wir sind nach Nordrhein-Westfalen gefahren und haben das ganze Land bereist. Dann hatte ich eine Reise nach Polen. Wir fuhren genau an dem Tag dorthin, an dem “Schwanensee” auf allen sowjetischen Fernsehkanälen lief, weil es im Ural einen schrecklichen Eisenbahnunfall gegeben hatte, bei dem eine Gasleitung explodiert war. Außerdem kamen wir an dem Tag nach Warschau, an dem die Solidarność die Parlamentswahlen gewann. Das bedeutet, dass sich niemand um uns scherte, wir konnten Geld wechseln, so viel wir wollten, jede Art von Überwachung war ausgeschlossen. Sie wussten überhaupt nicht, was sie mit uns machen sollten. Es gab auch eine dritte Reise – wie in einem russischen Märchen – mach Amerika: mit dem Kindertheater aus Nowosibirsk mit einem Stück, das, glaube ich, auf einem Libretto basiert. Deshalb war ich damals nicht sehr an dem Deutschen aus der DDR interessiert.

Ich hatte generell eine Vorliebe dafür, Fremde zu mir einzuladen, das war schon seit meiner Kindheit meine Schwäche. Wir lebten in Minsk und mein bester Freund war der Komponist Serjoscha Cortes. Seine Familie kam nach Minsk, weil sie aus Argentinien repatriiert worden war. Und ich interessierte mich für ihn, ich erinnerte mich für den Rest meines Lebens an das nicht sehr gute Russisch, das die Ausländer sprechen und an Erzählungen aus seinem Leben. Es war schön mit ihnen. Für mich waren sie ganz normale Menschen, und ich hatte keine Vorurteile, ich habe immer Kontakt zu ihnen gesucht.

Später war ich mit einem Kammerorchester in Frankreich, und ein Kollege und ich gingen Pilze suchen und trafen dort ein paar Deutsche, die, wie sich herausstellte, in der DDR geboren waren. Ich habe mich riesig gefreut, und sie hatten große Angst, dass sie es mit Menschen aus der Sowjetunion – jetzt Russland – zu tun hatten. Und sie haben sich quasi geweigert, mit uns zu kommunizieren; es ist kein Kontakt zustande gekommen.

KGB-Kuratoren

KGB-Kuratoren gab es immer. Im Sinfonieorchester wurde er, glaube ich, “der vierte Fagottist” genannt. Denn in einem Orchester durfte es höchstens drei Fagotte geben, und das vierte war sozusagen “außerordentlicher staatlicher Bediensteter”. Und die gab es in der DDR auch. Was ist die DDR? Es ist ein Land “an vorderen Rand”. Ein KGB-Offizier sagte mir: „Weißt du, ich habe dort gedient, und die Ostdeutschen haben eine Besonderheit. Sie sitzen da und hören West-Berlin im Radio oder sehen es im Fernsehen. Wenn es zu dieser Zeit klopft, öffnen sie nie sofort. Sie sagen: ‚Einen Moment‘, dann wechseln sie den Kanal und lassen euch rein.“ Ganz Ostdeutschland lauschte also Westdeutschland. Aus diesem Grund war die Frage nach den Informationen, die aus dem Westen kamen, sehr wichtig. 

Ich habe nichts Verbotenes aus Deutschland mitgebracht, aber in der Schweiz, zum Beispiel, waren wir in der sowjetischen Botschaft in Genf, und man hat uns das Buch “Lenin in der Schweiz” ausgehändigt: ein rotes gebundenes Buch, das Wladimir Lenin mit einem idiotischen Gesichtsausdruck darauf hatte. Ich wanderte umher und sammelte gedruckte Informationen über verschiedene Künstler wie Salvador Dali oder Ernst Klee, englischsprachige Zeitungen, darunter die europäische Ausgabe der New York Times, und so weiter. Und habe alles versteckt – das war natürlich kriminell. Und dann öffnete der Grenzbeamte den Koffer, und da liegt Lenin und schaut ihn an. Auf diese Weise habe ich illegale Waren über die Grenze geschmuggelt.

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023