Großvater

Mein Großvater kommt aus aus einem Ort südlich von Königsberg in Ostpreußen, im heutigen Polen. Er ist in den letzten Kriegsmonaten zum Volkssturm eingesetzt worden. Er hat sehr wenig über den Krieg gesprochen. Mir hat er einmal erzählt, wie traumatisch die Zeit für ihn war. Nach wenigen Monaten als Soldat an der russischen Front war er dann in russischer Gefangenschaft in der Nähe von Jaroslawl. Dort musste er im Steinbruch schwer arbeiten. Sie kamen im Wald an, es gab nichts und sie mussten erstmal Unterkünfte zum Schlafen aus Bäumen selbst bauen und das Lager nach und nach. Hier hatte er irgendwie die Möglichkeit dass er heimlich kleine Arbeiten für einen Offizier machen konnte – ich glaube er hat für ihn die Stiefel geputzt – und dafür kam er ein bisschen mehr Essen heimlich, sonst hätte er wahrscheinlich dort gar nicht überlebt. Und hier musste er Russisch lernen, um sich zu verständigen, das hat ihm sehr geholfen. 

Nach 5 Jahren wurde er endlich als Kriegsgefangener freigelassen und kam nach mehreren Tagen Zugfahrt im Transportwaggon mit vielen anderen ehemaligen Häftlingen in Ostberlin, in der neugegründeten DDR an. Er durfte nicht zu seiner Familie, die noch in Ostpreussen war. So war er ganz alleine auf sich gestellt, ohne zu wissen wohin und wie es weitergeht. Die ersten Tage hat er bei der Familie eines anderen Häftlings aus dem Zug geschlafen, dann gab es ein paar Hilfen und er hatte die Möglichkeit in das große Neulehrer-Programm der DDR aufgenommen zu werden und wurde innerhalb von 2 Jahren als Lehrer ausgebildet. Durch die Entnazifizierung in der noch neuen DDR wurden neue Lehrer dringend gebraucht.

Und so ist mein Großvater Lehrer geworden und hat meine Großmutter in einem Lehrerseminar kennengelernt. Später haben beide eine kleine Dorfschule in der Nähe von Frankfurt (Oder) geleitet. 

Großmutter

Meine Großmutter kommt aus einer Gegend südöstlich von Warschau, in der Nähe von Lodz. Ihre Familie lebte bereits seit mehreren Generationen dort, in einem Dorf mit deutschstämmigen Siedlern und Polen, das öfter zu verschiedenen Ländern gehörte. 

Daher hat mein Urgroßvater, der Vater meiner Oma, im Ersten Weltkrieg unter dem Zaren gedient und war mit der russischen Armee bis in der Türkei. Im Zweiten Weltkrieg wurde er für die Deutschen eingesetzt; mit ihm der ältere Bruder, der einzigste Sohn. 

Als 1945 die Front fast vor dem Dorf war, kamen deutsche Soldaten und ordneten an „ihr müsst innerhalb von drei Stunden den Hof verlassen.” Dadurch war die Mutter plötzlich ganz alleine mit drei Mädchen auf der Flucht und meine Oma war die Jüngste von 5 Kindern.

Sie machten sich zu Fuss auf den Weg nach Danzig und wollten mit dem Schiff nach Hamburg, das war die einzigste Option. Tatsächlich kamen sie in Danzig an und wollten mit auf die “Gustloff” und riefen „Nehmt uns mit!“ Dadurch, dass sie nicht mit auf das bereits stark überfüllte Schiff konnten, haben sie zum Glück überlebt und sahen die Tragödie wie das Schiff mit so vielen Flüchtlingen im Hafen sank.

Zweieinhalb Jahre sind sie von Mittelpolen an die Ostseeküste und dann hin und her und wussten auch nicht wohin sie eigentlich können. Nach verschiedenen Stationen in Mecklenburg und Thüringen, kamen sie in Jamlitz, einem kleinen Dorf nördlich von Cottbus an. Ein ganz kleines Dorf, das strategisch gut gelegen war, viel Wald und ein gut ausgebautes Schienennetz. Hier gab es im Wald ein Konzentrationslager, das die Sowjetarmee 1945 befreit hat und dann weiter als NKDW Lager benutzt hat bis 1947.

Meine Großmutter kam mit ihren Schwestern und ihrer Mutter hier auf einen Hof, der wohl als Pferdestall der sowjetischen Offiziere genutzt wurde. Eine große Scheune und eine kleine Hütte mit zwei kleinen Räumen. Später kam dann mein Urgroßvater aus dem Krieg zurück, sie haben sich über das Deutsche Rote Kreuz wiedergefunden, hier hatten sie endlich einen Ort, ein kleines Zuhause mit etwas Land das sie zum Anbauen nutzten.

Wenn ich das richtig verstanden habe, haben meine Großmutter mit ihrer Mutter und den Schwestern auf diesem Grundstück anfangs mit einigen sowjetischen Soldaten gewohnt, die sich m die Pferde gekümmert haben. Ich glaube, das ging so ineinander über und irgendwie haben sie dort Russisch gelernt. Jedenfalls haben meine Großmutter und mein Großvater durch die Kriegszeiten Russisch gelernt. Meine Großmutter, die durch den Krieg nur wenige Jahre in der Schule war, hat eine Lehrerausbildung im Nachbarort Neuzelle begonnen und war die einzigste in der Familie, die einen erlernten Beruf hatte. Von dort zog sie zu meinem Großvater nach Hohenwalde bei Frankfurt an der Oder, wo sie gemeinsam die kleine Dorfschule leiteten. 

In den Siebziger Jahren sind meine Großeltern mit ihren drei Kindern umgezogen nach Berkenbrück, ein Dorf in der Nähe von Fürstenwalde, dort hatten sie ein eigenes Haus gekauft.

Das kleine Dorf liegt noch heute an einer wichtigen, traditionellen Eisenbahnstrecke, die Paris und Moskau miteinander verbindet. Die Schlafzüge haben hier oft auf dem Abstellgleis pausiert und es war immer unser großer Traum, dass wir einmal zusammen, meine Großmutter und ich, nach Moskau fahren. Das war immer ihr Traum, der aber leider nie Wirklichkeit wurde, was wirklich schade ist.

Oft haben wir beim Pilze sammeln im Wald, die Zugwagons auf den Abstellgleisen neugierig bestaunt und die Leute gesehen, die gelangweilt rausguckten. In dieser Zeit hat sich meine Großmutter weiter qualifiziert und Russisch sogar unterrichtet.

Interessant ist, dass meine Großmutter zwar Russischlehrerin war, aber nie die Möglichkeit hatte in die Sowjetunion oder später nach Russland zu Reisen. Trotz ihres Berufes sind beide Großeltern ihrem Glauben treu geblieben und haben sich nicht ideologisch vereinnahmen lassen. Als Neulehrer hatten sie eine wichtige politische Funktion, sozusagen die neue Generation für das neue Weltbild der DDR aufzubauen. Sie haben sich letztlich nie einer Partei angeschlossen und dadurch auch keine Vorteile gehabt, keine Beförderungen oder größere Auszeichnungen, wie in die Sowjetunion zu fahren. Das ist schon schräg.

Meine Großmutter war einfach neugierig und kaum Berührungsängste, so hat sie einfach selbst nach Möglichkeiten gesucht, wo sie Russisch im Alltag sprechen konnte. So wurde sie oft gefragt: „Wir haben eine russische Delegation, kannst du übersetzen kommen?”  Oder wenn sie im Zug oder auf dem Bahnhof Soldaten oder Offiziere traf, hat sie sie einfach auf Russisch angesprochen.

Offiziell war kein privater Kontakt zwischen DDR-Bürgern und Sowjetbürgern erwünscht und die Sprache war auch eine große Barriere, nur wenige konnten Russisch auch wirklich sprechen, trotz jahrelanger Fremdsprache in den Schulen, da es kaum Praxis gab.

Ines

Als Kind machte mir das regelmäßige Kriegsmanöver nachts direkt in den Wäldern hinterm Haus oft Angst. Es hatte für mich etwas sehr bedrohliches.

Ich erinnere mich an die langen Rückstaus durch das ganze Dorf, wenn die Schranken vom Bahnhof geschlossen waren, standen vor unserem Haus Panzer auf Lkws und andere Kriegsmaschinerie. In den Wäldern, wo wir Pilze und Blaubeeren gesammelt haben, sind wir manchmal mitten durchs Manöver gelaufen und tagsüber haben wir als Kinder in den Bunkern gespielt und uns gefreut, wenn wir eine Gasmaske gefunden haben. Und die ewig langen Betonmauern, an denen wir immer in allen größeren Orten vorbeigefahren sind, hinter denen die stationierte Sowjetbevölkerung wie in einer eigenen Stadt, abgegrenzt lebte. Das sind meine Erinnerungen an den Kalten Krieg.

Fürstenwalde war auch eine von diesen Städten, wo 10.000-12.000 sowjetische Soldaten stationiert waren, um den Frieden in der DDR und besonders in Ostberlin zu sichern. Woran ich mich erinnere, sind russische Frauen mit knalligem Lippenstift und viel Parfüm, super schick gemacht, Offiziersfrauen, die sich in der Kreisstadt Fürstenwalde was Schönes geleistet haben. Dazu man muss sagen, den Menschen in der DDR ging es zu der Zeit, Mitte der 80er Jahre besser als in der Sowjetunion, es gab im Vergleich mehr Konsumgüter zu kaufen.

Mit meiner Großtante sind wir manchmal in Jamlitz ins Magazin im Lager im Wald gefahren. Sie hatte sich mit der Verkäuferin schon angefreundet. Dort gab es manchmal ganz interessante Sachen wie Krimsekt oder Mischka Schokolade, die mich natürlich mehr interessierte. Die Verkäuferin durfte meine Tante nicht besuchen, sie konnten sich nur im Magazin oder am See beim Dorf treffen. Dabei ging es um Geschäfte, ich glaube sie hat Goldschmuck verkauft, um sich dann in der DDR wahrscheinlich, sagen wir mal, Schuhe zu kaufen und die dann wieder in der Sowjetunion einzutauschen. Ich habe sogar noch zwei solcher Stücke aus Rotgold von meiner Tante.  

Außerdem kann ich mich noch daran erinnern, dass es ganz viel Zugverkehr gab, weil die  Lager der Sowjetarmee über Güterzüge beliefert wurden. So mussten wir mit dem Auto immer an irgendwelchen Schranken lange warten und ich zählte die Güterwagons mit Kohle, Soldaten, Armee-Autos, Öl, Holz, etc. Ich kann mich daran erinnern wie wir an einem dunklen Winterabend an einer Schranke im Wald standen und dann jemand aus dem Nichts ans Fenster klopfte. Ein russischer Soldat, der nach Zigaretten bettelte. Das war sehr irritierend, weil jeglicher Kontakt war verboten, besonders für die Soldaten und dann die Frage warum er alleine, ausserhalb des Lagers war, ob er vielleicht geflüchtet ist? Dafür gab es sehr hohe Strafen! Ich saß verängstig und neugierig hinten im Auto und mein Stiefvater sagte: „Dir gehts noch schlechter, nimm die ganze Packung”. Man hat auch irgendwie Mitleid mit den Soldaten gehabt. 

Lena aus Kyjiw

In den 90er Jahren hat sich das verändert, die stationierten Sowjetbürger durften sich frei bewegen. In der Zeit hat meine Oma einen russischen Offizier kennengelernt, der an der Spree angelte und dann manchmal vorbei kam. Sehr beeindruckende Goldzähne hatte der. 

Dann lernten wir Viktor und Tanja kennen, ein heute ukrainisches Paar, das in Kyjiw wohnt. Die beiden haben eine Radtour in das nächste Dorf gemacht, um sich die Gegend anzusehen. Un dabei hat meiner Großmutter sie angesprochen „Oh, ihr sprecht Russisch!” Sie kamen öfter am Wochenende vorbei mit ihrer Tochter Lena, die so alt wie ich ist.

Lena hat mich vor einigen Jahren über Facebook angeschrieben, dadurch waren wir in Kontakt. Früher lief alles über meine Oma auf Russisch und ich habe in der Schule nie richtig Russisch gelernt, dass ich es auch hätte sprechen können, trotz der Unterstützung meiner Großmutter. Wir haben uns mit Lena immer zum Geburtstag geschrieben, auf Englisch.

Als der Ukraine-Krieg begann, dachte ich an sie und hab mich gefragt wie es ihnen geht. Und dann habe ich einfach im Messanger gefragt: „Wo seid ihr? Wie geht es euch? Was ist los?” Und dann hat sie mir ein paar Tage später geschrieben „Hallo, schön von dir zu hören. Wir sind in Berlin. Können wir uns treffen?” Das Treffen war natürlich sehr emotional aufgeladen, weil es auch die Geschichte meiner Großeltern und meiner Familie in Erinnerung gebracht hat. Wir trafen uns eine Woche nach Kriegsbeginn am Hauptbahnhof. Werden wir uns Wiedererkennen am überfüllten Bahnhof? Schließlich haben wir uns 20 Jahre nicht gesehen. Und wir haben wir uns tatsächlich gleich wiedererkannt, dass man sich meist doch nicht so viel verändert nach so einer langen Zeit!

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023