Studieren in Berlin

Als ich in die fünfte Klasse kam, mussten wir eine Sprache wählen. Zu dieser Zeit schrieb mein Vater seine Dissertation und musste eine Prüfung in Deutsch ablegen. Also entschied ich, dass ich auch Deutsch lernen würde. 

Ich wollte weiter Deutsch lernen und wurde an dem Institut für Romanistik und Germanistik der philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau aufgenommen. Im dritten Jahr wurden wir für Studien in Deutschland ausgewählt. Nur diejenigen, die gute Noten in den sozioökonomischen Fächern und ein Mindestalter von 20 Jahren hatten, wurden zugelassen. Ich habe das Studium nicht direkt nach der Schule angefangen, sondern erst im darauffolgenden Jahr, nachdem ich acht Monate in einer Weberei gearbeitet hatte. Wir mussten ein ganzes Jahr, zwei Semester lang, an der Universität in Berlin studieren. Dies wurde erst am Ende des zweiten Jahres, kurz vor den langen Ferien, bekannt gegeben. 

Das Leben eines sowjetischen Studenten in der DDR

Vor der Reise wurden wir instruiert, wie wir uns bei der Ankunft in der DDR verhalten sollten. Der Ausbilder war irgendein kommunistischer Professor, Wladimir Petrowitsch Nestrojew, ein sehr alter Mann. Er war ein Bauernsohn, ein Kommunist, ein Revolutionär. Ich habe im ersten Jahr meine Hausarbeit bei ihm geschrieben, und er hielt sich für meinen akademischen Leiter. Er sagte mir: “Ja, Olja, da gehen Sie nach Berlin, aber dort kann man ja westliches Fernsehen empfangen. Also sollten Sie nicht fernsehen”. So ein Gespräch hatten wir. Aber da er ein ziemlich unangenehmer Mann war, widerwärtig und ideologisch zugespitzt, habe ich dem einfach keine Aufmerksamkeit geschenkt. Doch ich muss sagen, ich habe nie versucht, westliches Fernsehen zu sehen, wir hatten dort nicht einmal Fernseher. Ich habe das kulturelle Element der DDR gar nicht erkundigt – weder die Liederbücher noch die halbverbotenen aktivistischen Subkulturen. Das war nicht mein Gebiet. 

Überraschend war jedoch die Zurückhaltung der deutschen Studenten, die sich mit uns nicht angefreundet haben, weil wir Ausländer waren. Wie bei allen gefährlichen Ausländern wurde auch für uns keine Ausnahme gemacht. Und außerdem waren sie nicht interessiert. Wir nannten sie heimlich Mäuschen. Auf sich selbst fokussiert, liefen sie am Donnerstag oder Freitag um vier Uhr nach Hause, nahmen den Zug und das Kursbuch – das wichtigste Buch. Wir gingen ins Theater, ins Kino, in Ausstellungen, aber die gingen nirgendwo hin – sie lernten und eilten dann nach Hause. Und dort hatten sie ihre Aufgaben im Haushalt, das war das Wichtigste. Und das war eine verblüffende Entdeckung, auf die ich nicht vorbereitet war: ihre fehlende Bereitschaft, mit uns zu kommunizieren, eine Art Misstrauen. Die Wand war so durchsichtig. 

Es war nicht möglich, einfach so von Berlin nach, zum Beispiel, Erfurt zu fahren. Wir mussten schreiben: “Ich werde nach Erfurt gehen, in diese und jene Straße, in dieses und jenes Haus.“ Was haben wir getan? Wir schrieben: “Ich fahre nach Erfurt, Bahnhofstraße 3” oder “Göthestraße 4”, und jedes Mal war es entweder die Goethe-Schillerstraße oder die Bahnhofstraße – viele Möglichkeiten gab es nicht, wir wechselten uns ab. Aber das war nicht streng geregelt, nur zum Ausfüllen von Mappen, und so kamen wir überall ohne Probleme hin.

Bettina

Im Wohnheim am Prospekt Vernadskogo in Moskau gab es Wohnungenmit zwei oder drei Zimmern. Und im Zimmer nebenan wohnte Bettinka. Es war bekannt, dass sie aus der DDR kam, also eine echte Deutsche war. Und ich erinnere mich, sie noch vor meiner Reise kennengelernt zu haben. Sie saß auf dem Bett und ich kam extra zu ihr. Ich erinnere mich, dass es irgendwie eigennützig war. Ich brauchte eine Person, mit der ich Deutsch sprechen konnte.

Aber es stellte sich heraus, dass sie nach Hause fuhr und erst im Herbst zurückkommen würde. So wäre es schwer sich anzufreunden, aber ich sagte: “Ich fahre auch.” Sie sagte: “Dann komm uns doch mal besuchen.” – “Wo wohnst du denn?” – “In Mühlhausen.” Das klingt so magisch. Wir haben Adressen ausgetauscht. Aber ich war besorgt. Ich mochte sie nicht, weil sie nicht so luftig war wie ich. Ich fragte: “Hast du „Krieg und Frieden“ gelesen?” Sie sagte: “Nein, komm schon. Dort, wo ich jetzt sein werde, in Deutschland, muss ich einkaufen gehen, neue Sachen kaufen, Toilettenpapier aufstocken. Ich habe keine Zeit zum Lesen, es ist ein sehr umfangreiches Buch. Ich habe mir angesehen, worum es geht, und das reicht”. Und sie hat russische Philologie studiert! Ich war völlig verblüfft darüber. Wie kann man Tolstoi nicht lesen? 

Trotzdem wurden sie und ich Freunde. Und vereinbarten, dass ich sie besuchen würde, wenn ich nach Deutschland komme. Ich bin hingefahren, ohne anzurufen oder zu schreiben. Die Aufregung war unglaublich. Ich kam in dieses Haus und alles war geschlossen. Die Nachbarn kamen heraus, haben mich sofort reingelassen, gekreischt, das ganze Haus hat sich versammelt. Es stellte sich heraus, dass Bettina schwanger war und in Moskau geblieben ist. Aber am Abend hatten sie Tische und Stühle aufgestellt, Kuchen gebacken und ein unglaubliches Festmahl zubereitet. “Olga ist da! Bettinas Freundin aus Moskau.” 

Bettina hat im Oktober desselben Jahres in Moskau entbunden. Und ich war an ihrer Stelle und erzählte der Familie, wie es ihr ging. Sie war mit einem sowjetischen Mathematiker zusammen, einem Griechisch-Georgier von unserer Universität. Er kam aus Zalka, da waren Pontier. Er stammte aus diesem Ort und war ebenfalls Student an der Moskauer Universität. Wir nannten ihn Wolodja, und sie nannte ihn Janis, weil er zwei Namen hatte. 

Für mich ist Deutschland seither Bettinas Familie. Es gab viele von ihnen, sie waren freundlich und versammelten sich immer an einem Ort, nämlich im Elternhaus. Ich brachte alle möglichen Geschenke mit – meine Mutter gab sich große Mühe, sie wusste, dass man Baumwolle, Leinen, einige gelbe Kleidung mit Paisleymuster, zarte Zellwolle und die Schokolade „Aljonka“ mitbringen sollte. Dies wurde dankend angenommen, obwohl nicht klar war, warum es notwendig war. Bettinas Vater, Werner, war Mathematiklehrer, und ihre Mutter arbeitete als leitende Angestellte in einer großen Fabrik für Kunstfasern. Morgenmäntel und Pullover aus Glasfaser, unverwüstlich. Ich versuche es wegzuschmeißen, schaffe es aber nicht – zu viele Erinnerungen. 

Bettina lag sehr tapfer im Sterben. Sie hatte die seltenste Form von Krebs, aber sie lebte zwei Jahre lang mit ihm und versuchte alle experimentellen Methoden. Und zwischendurch haben sie und ihr Mann Dieter Last-minute-Trips gekauft und sind viel gereist.  

Essen: Entourage und Raffinesse

Nach dem Studium arbeitete ich als Lehrerin in Krasnojarsk und sah eine Hungerkrise, bei der von allen Lebensmitteln nur zwei verkauft: Blutwurst und eingelegter Seetang. Es gab weder Grütze noch Brot. Und 1978-1979 ging es bereits in diese Richtung, so dass mir das Leben in der DDR wahnsinnig reichhaltig erschien. Bettinkas Mutter hat gut gekocht. Ich sehe immer noch vor meinen Augen, wie ich aufwachte und sie den dicksten Kakao aufbrühte und ihn in einem hohen Strahl in eine schöne Porzellankanne goss und dann aus der Tülle in eine Tasse goss. Das war sehr schön. 

Generell waren viele Eindrücke aus diesem Haus mit Essen verbunden. Der Vater war für das Abendessen zuständig: Er verdünnte Hüttenkäse mit Milch, hackte Zwiebeln hinein, fügte Salz hinzu und gab das Ganze auf Schwarzbrot, das in Dreiecke geschnitten wurde. Er machte viele, viele dieser Brote. Und dann bekamen einige Leute Bier, andere etwas anderes zu trinken, aber wenn ich um Tee bat, waren sie überrascht – damals tranken sie keinen Tee, Bettinka und ich waren die Pioniere. Später habe ich gelesen, dass Tee in den 1960er Jahren noch ein Apothekengetränk war. Und in den 1970er Jahren war es noch nicht üblich Tee zu trinken, es gab keine Teekultur und keine Teekannen – wir brachten sie als Geschenk.

In Bettinas Familie gab es einmal ein festliches Abendessen mit selbstgebackenem Kuchen und Eierlikör, der in kleine, fingerhutgroße, schokoladenüberzogene Waffelschalen gefüllt wurde. Es blieb mir ein Leben lang als etwas unglaublich Raffiniertes und unglaublich Feines in Erinnerung. 

Die Geschichte hat sich vor kurzem fortgesetzt. Bettinas Witwer Dieter, darunter leidend, dass sie gestorben ist, fand das Kochbuch von Bettinas Eltern. Es stammt aus dem Jahr 1979. Ich fragte ihn, ob da Eierlikör drin sei. Er schickte mir eine Seite mit folgendem Inhalt: “Ein Rezept von Großmutter, die 1979 starb, als Bettina in Moskau war und Jana geboren wurde. Geschrieben zu Ehren von Janas Geburt”. So eine Notiz! Es gibt vier Rezepte für Eierlikör, die ich alle in meinem Dorf nachgemacht habe, mit Zitronensaft, mit Alkohol, usw. Und er schrieb mir einen Kommentar zu diesen Rezepten, das das in städtischen eine Rarität war. Ein ganzes Gedicht. Das Rezept enthielt beispielsweise hochprozentigen Alkohol, der von 0,33 Litern auf die Stärke von Schnaps verdünnt wurde. Es stellte sich heraus, dass dieser Alkohol für harte Arbeit in einer gefährlichen Industrie, z. B. in den Minen, gegeben wurde – er war billig, stark, von hoher Qualität und wurde in kleinen Flaschen von 0,33 Litern abgefüllt. Jedenfalls hat es sehr gut geschmeckt. Ich habe meine Freundin vor Ort gezeigt, wie man es zubereitet, und sie brachte mir die Reste. Aber was in den Händen von Bettinas Familie war, war exquisit und wunderbar, sah in einer Literdose widerlich aus…Alles dreht sich um die Entourage! Und für mich war es damals die erste Extravaganz – ungewöhnliche Dinge aus gewöhnlichem Essen.

2022 Euro

Bettina hatte eine fantastische Sprache – sehr raffiniert, komplex verdreht, und sie las viel, aber es fiel ihr schwer zu schreiben. Wir korrespondierten hartnäckig, weil wir verstanden, dass wir in Kontakt bleiben mussten, und dann kam das Telefon und es wurde einfacher. Bettina begann, mehr anzurufen und weniger zu schreiben.  Nur sie rief an, weil sie immer noch wohlhabender war als ich. Während ihrer langen Jahre in der DDR war sie trotz der Entbehrungen und Schwierigkeiten um ein Vielfaches reicher als ich. 

Bettina war immer sehr großzügig zu mir. Sie bezahlte nicht nur meine Flüge, bis ich sie mir selbst leisten konnte, sondern schickte mir auch noch, als sie bereits krank war, einen Umschlag. Darin befanden sich 2022 Euro – eine Menge Geld. Ich wurde damals 60 Jahre alt und sollte das Geld dafür verwenden, das Dorf mit Wasser zu versorgen. Im Februar 2022 musste meine Tochter Polina dringend Moskau verlassen, und sie verwendete das Geld.  Ich finde, dass Bettina Polina mit dem Geld gerettet hat. 

Unerwünschte Wege 2023