Russische Sprache

Ab der dritten Klasse war ich in einer Klasse mit erweitertem Russischunterricht, was bedeutete, wir hatten schon ab der dritten, vierten Klasse muttersprachliche Russischlehrer. Und dann hatten wir später eine Lehrerin, die einen Russischzirkel aufmachte. Wir waren zeitweise zu dritt, manchmal war ich ganz allein. Ich hatte quasi Privatunterricht in Russisch. Dadurch hatte ich von vornherein ein anderes Verhältnis zum Russischen, weil meine Russischlehrerin hier in Berlin mich bekochte und mir Russisch beibrachte, mit mir russische Texte las.

Mit Russischlehrerin Galina Kasanskaja, 1973
Archiv G.-M. Braungardt

Briefwechsel

Natürlich hatten wir die üblichen Brieffreundschaften. Aber neben der offiziell aus der Schule zugeteilten hatte ich noch eine andere: Ein Mädchen in meinem Alter schrieb einen Autogrammwunschbrief an meinen Vater. Er war Schauspieler und war durch Filme bekannt, auch in der Sowjetunion. Plötzlich kam so ein Brief mit dem Wunsch nach einer Autogrammpostkarte von Wolfgang Greese, und der Brief war auf Russisch. Natürlich musste ich den beantworten, und so kam eine Brieffreundschaft zustande. Da sie später in Nowotscherkassk studierte und ich das erste Jahr in Rostow am Don, haben wir uns dort tatsächlich kennengelernt, nachdem wir uns seit der achten Klasse geschrieben hatten.

Erste Reisen in die Sowjetunion

Mit 14 schenkte mir meine Mutter zur Jugendweihe eine Reise nach Moskau und Leningrad. Sie piekte mich immer an: „Du hast doch Russisch gelernt, nun red’ mal!“ Zum Beispiel wurde eine Frau aus unserer Reisegruppe krank und ich musste für den Arzt dolmetschen. Oder in Restaurants Leute ansprechen; meine Mutter ist sehr gesellig, konnte aber leider kein Russisch: „Ganna, du hast es doch gelernt, mach mal!“

In der neunten Klasse – ich hatte bei der Russisch-Olympiade der Berliner Schulen den zweiten Platz belegt – fuhr ich mit dem Freundschaftszug nach Moskau. Wir waren in einer Schule untergebracht, aber das Wochenende verbrachten wir in Familien, wurden dort abgeholt, und meine Familie, die war ganz toll. Sie sind mit mir zum Schloss Scheremetjewo gefahren und haben mir alles Mögliche gezeigt. Ich habe heute noch zwei Bände Jessenin, die sie mir geschenkt haben. Das war ein ganz warmherziges tolles Verhältnis und überhaupt nicht ideologisch.

Alltag in der Sowjetunion

Mein Wunsch, in der Sowjetunion zu studieren, hing damit zusammen, dass ich was Naturwissenschaftliches machen wollte. Ich wollte Kernphysik studieren. Da war die Sowjetunion von den sozialistischen Ländern das Fortschrittlichste, und da wollte ich hin. Ich bekam dann etwas anderes, Ökonomie der Energiewirtschaft, und habe mir überlegt: „Ach nee, Ökonomie studieren will ich eigentlich nicht, dann lieber Russische Sprache und Literatur.“

Und kam dann in die Sowjetunion mit all den Vorstellungen von der weiten russischen Seele und so. Nach zwei Wochen in Rostow am Don wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert, weil ich Durchfall hatte und auf dem Markt umgefallen war. Kam in ein Infektionskrankenhaus mit Verdacht auf Ruhr. Ich war dort ganz allein, keiner wusste, wo ich bin, und lag in einem Saal mit sechs Frauen. Lernte dort ein Russisch, das ich bisher nicht gehört hatte. Eine war hochschwanger, bekam nie Besuch von ihrem Mann, weil der schwerer Alkoholiker war. Das Kind war das dritte oder vierte. Alle erzählten, dass sie von ihren Männern geprügelt werden. Alle mussten den Haushalt alleine bewältigen. Sie erzählten vom Anstehen nach Lebensmitteln. Das bekam ich dann später selber mit, dass es vieles nicht gab. Manche wohnten noch Jahre nach Abschluss der Schule und der Lehre in Wohnheimen, bekamen keine Wohnung, standen auf Wartelisten, lebten sehr beengt. Die medizinische Betreuung in dem Krankenhaus war ziemlich übel. Im Flur lagen auch lauter Patienten. Es war ein Infektionskrankenhaus, überbelegt. Auf dem Flur lag eine Frau. Ich hatte als Kind ein Buch über Medizin gelesen. Nach ihren Symptomen dachte ich: „Die hat doch Cholera, das kann gar nicht sein!“ Und ich fragte die Leute. „Ja, die hat Cholera.“ Also solche Dinge, mit denen rechnet man nicht, wenn man zum Studium in die große brüderliche Sowjetunion fährt.

Es gab viele Lebensmittel nicht. Wir standen nach Eiern an, wenn es mal welche gab. Fleisch und Wurst waren ebenfalls rar. Es wurde immer weniger. Ich habe ’75 mit dem Studium angefangen, ’80 türmten sich dann in den Lebensmittelläden die Konservenbüchsen, weil es nichts anderes mehr gab. Brot gab es eigentlich immer, Käse in Maßen, Milch war schon schwierig. Es gab dann diese sogenannten Milchküchen, wo Frauen mit Kindern mit einer Bescheinigung Milch bekamen. Im vierten, fünften Studienjahr kriegten die ersten Mädchen Kinder. Und die durften sich in diesen Milchküchen Milch holen. Also von ’75 zu ’80 wurde es immer schlechter mit der Versorgung. Und dann, kurz vor der Olympiade, wurde es noch mal einen Zacken schlechter, weil alles nach Moskau geliefert werden musste, um die Versorgung der Olympiade zu gewährleisten.

Mein Mann – wir waren damals noch nicht verheiratet – kommt aus einer sehr linientreuen Familie, beide Eltern arbeiteten bei den „bewaffneten Organen“, wie das damals hieß. Und immer, wenn wir Briefe nach Hause schrieben, wurden die gelesen. Mein Mann wurde von seinem Vater ermahnt: „Wie kannst du uns so was schreiben? Mein Chef hat mich zur Aussprache zitiert!“ Er wurde von seinem Behördenchef vorgeladen: „Dein Sohn schreibt antisowjetische Briefe.“ Als wir im fünften Studienjahr waren, luden wir sie ein. Meine Schwiegereltern kamen zu Besuch. Da wurden sie etwas kleinlaut, als sie sahen, dass unsere antisowjetischen Briefe einfach nur die Realität beschrieben. Die Spruchbänder mit den Losungen wurden immer größer, doch das, was es in den Läden zu essen gab, das wurde immer weniger. Aber das durften sie natürlich trotzdem so nicht äußern.

Studium in Woronesch

Viele Dozenten, die uns unterrichteten, waren sehr kommunistisch geprägt. Was sie aber nicht verstanden: dass ich meine Oma, die in Braunschweig lebte, also in Westdeutschland, nicht besuchen konnte. Das hat sie sehr verwundert. Dass zwischen Deutschland und Deutschland eine Grenze ist, war ihnen nicht bewusst, sie dachten: „Verwandte kann man natürlich besuchen.“

Der Chef des Lehrstuhls Sowjetliteratur, Anatoli Abramow, war ein großer Anhänger von Alexander Twardowski und von Twardowskis Zeitschrift Nowy Mir aus der Tauwetterperiode. Der gab uns sehr viele Dinge zu lesen, die dann in den Siebzigern, als ich studierte, schon nicht mehr existierten. Wir hatten eine Dozentin, die internationale Literatur unterrichtete und die sagte: „Wer die Bibel nicht gelesen hat, der hat hier nichts zu suchen, denn er versteht von der Weltliteratur rein gar nichts. Ebenso wie man von der Malerei, der klassischen, mittelalterlichen Malerei überhaupt nichts versteht, wenn man die Bibel nicht gelesen hat.“

Die FDJ als Aufpasser

Dann kam die Biermanngeschichte ’76, das war noch relativ früh, zweites Studienjahr. Und ich sollte auf einer FDJ-Versammlung Biermann verurteilen. Sah ich keinen Anlass. Ich war die Einzige, die den Namen Biermann schon mal gehört hatte. Meine Eltern hatten so ein kleines Biermannbändchen, und das habe ich erzählt: „Ja, wir haben seine Gedichte.“ Und dann hat das offenbar jemand weitergemeldet. Jedenfalls wurde ich auf dem Weg in die Winterferien von der Botschaft vorgeladen. Sehr skurrile Geschichte. Wir mussten antanzen in der DDR-Botschaft. Da saßen zwei, drei Leute: der Leiter der Studentenabteilung in der DDR-Botschaft, und dann ein Herr, der sich nicht vorstellte. Wirklich wie im Film. Die redeten auf mich ein, wir hätten die gesammelten Biermann-Werke zu Hause. Ich sagte: „Nee, wir hatten nur ein Bändchen. Und woher wissen Sie das überhaupt?“ „Das tut nichts zur Sache.“ In diesem Stil wurde mit mir geredet. Mein Mann saß neben mir und hat mir hinterher gesagt: „Ich hab’ die ganze Zeit gezittert, dass du jetzt brüllst, ‘rausrennst, die Tür zuknallst und damit dein Studium gelaufen ist. Dann schmeißen die dich raus.“ Ich war aber so fassungslos, dass nicht mal diese natürliche Reaktion, die sonst meine gewesen wäre, mir irgendwie in den Sinn kam. Das Einzige, was ich gesagt habe, war: „Ich sehe überhaupt keinen Grund, mich nach den Ferien vor der versammelten FDJ-Mannschaft hinzustellen und mich von Biermann zu distanzieren. Denn noch weiss ich ja nur, was in den Zeitungen steht, und das genügt mir nicht.“ Und es gab auch überhaupt keine Folgen. Doch, eine: Nach den Ferien kam eine Geschichtsstudentin sehr bedrückt zu mir und sagte, sie sei diejenige gewesen, die das der Botschaft gemeldet hat. Sie hat sozusagen gestanden, sie sei IM und hätte gar nicht gewusst, dass das solche Folgen haben wird. Hatte für mich ja dann keine.

Aufgrund meiner Leistungen musste ich nicht zu allen Vorlesungen gehen. Doch auch darauf achteten die FDJ und die Genossen. Die brachten es fertig, sich vor den Stundenplan zu stellen: „Du hast doch jetzt Vorlesung. Wieso bist du nicht in der Vorlesung?“ Brauchte ich nicht, weil ich von der Fakultät aus das Recht hatte, meine Lehrveranstaltungen frei zu wählen.

Kontaktverbote

Ich war Mitglied in einem wissenschaftlichen Studentenzirkel. Da waren natürlich russische Studenten, aus der DDR nur ich, und außerdem zwei Österreicherinnen. In der FDJ-Gruppe wurde diskutiert, ob ich dorthin gehen darf, weil in dem Zirkel ja Österreicherinnen waren. Da habe ich gesagt: „Das ist mir völlig egal, es ist ein sowjetischer Lehrstuhl, ich studiere hier. Natürlich gehe ich zu diesem Zirkel.“

Kontakte zu den westlichen Ausländern sollten wir vermeiden. Wir wohnten auch in einem anderen Wohnheim. Ging einer von uns in das zweite Wohnheim, in dem die westlichen Ausländer wohnten, konnte es ihm passieren, dass er am Tag darauf von einem FDJ-Menschen angesprochen wurde: „Was hast du denn da im zweiten gemacht?“ So weit ging das. Das war schon eigenartig.

Die sowjetische Seite wusste natürlich, dass wir dieses Kontaktverbot hatten. Hielt sich auch dran. Aber wenn zum Beispiel Ausflüge organisiert wurden, was öfter passierte – nach Mittelasien, ins Baltikum, Busreisen zu Turgenjews Gut, zu Tolstoi nach Jasnaja Poljana – wurden Gruppen zusammengestellt, und da passierte es mal, dass auch Engländer und Österreicher dabei waren. Da sagte unser FDJnik: „Das geht nicht, da dürft ihr nicht mitfahren.“ Weil: Westkontakte, im Bus, zu eng, könnten wir uns ja was holen. Und dann hat die sowjetische Seite, also das Ausländerdekanat, gesagt: „Nun habt euch mal nicht so, da müssen die selber dafür sorgen, dass sie keine Kontakte haben. Aber wir wollen den Bus voll kriegen, lasst die mal mitfahren.“ Und dann durften wir mit.

Die FDJ war sehr viel verbissener als die sowjetische Seite, auch was Reisen innerhalb des Landes betraf. Wir brauchten ja ein Visum, wenn wir im Land verreisen wollten. Das erste Jahr studierte ich in Rostow am Don, und mein späterer Mann in Woronesch. Wenn wir uns besuchen wollten, brauchten wir eine Erlaubnis des Ausländerdekanats der Uni, aber auch der FDJ-Leitung. Die uns die oft verweigerte: „Nö, geht nicht, dürft ihr nicht.“ Wenn ich dann zum Ausländerdekanat ging und ein bisschen auf den Tisch klopfte, kriegte ich doch meine Genehmigung.

Eine russische Studentin aus meiner Gruppe war enger befreundet mit einem Afrikaner aus dem Senegal und wurde von ihm schwanger. Das war ein Riesenproblem. Sie musste das Kind abtreiben, da hat die Fakultät drauf bestanden. Ihre Eltern wollten das Kind auch nicht. Der Vater war irgendein Parteibonze in Woronesch. Sie durfte das Kind nicht kriegen und durfte auch mit diesem Schwarzen nicht zusammenbleiben. Der verschwand dann bald. Er war mit dem Studium zwar fertig, wollte aber eigentlich noch eine Dissertation machen, war dann jedoch weg. Und dann gab es eine Versammlung, wo das tatsächlich beredet wurde, unter dem Deckmantel „Verbreitung von Geschlechtskrankheiten“. Da war ich nicht dabei; zu diesen Komsomol-Versammlungen durften wir nicht. Das kam vom Dekanat, von der Fakultätsleitung. Das war eine sehr üble Geschichte.

Und danach gab es eine FDJ-Versammlung ähnlicher Art. Zwei Philologiestudentinnen aus dem ersten Studienjahr, die dort fünf Jahre studieren sollten, waren mit Studenten aus einem afrikanischen oder arabischen Land zusammen. In der Versammlung wurde das schärfstens kritisiert und verurteilt. „Die schmutzigen Beziehungen zu Drittländern“, so wörtlich, seien zu vermeiden. Das war unglaublich. Und da stand die eine auf und sagte ganz hilflos: „Na, dann schickt uns doch mehr deutsche Jungs her!“

Die Studentinnen aus der DDR, die im Rahmen ihres Russischlehrerstudiums für ein Jahr in Woronesch waren, machten in der Fakultät eine Wandzeitung zu Ostern, mit Ostereiern bemalt und fröhlichen Ostersprüchen. Ein Riesenskandal! Die wussten nicht, dass Ostern in der Sowjetunion verboten war. Meine russischen Kommilitonen färbten alle heimlich Ostereier und gingen in die Kirche, wo sie sonst nie hingingen. Aber an der Uni-Wandzeitung in der Fakultät, da durfte so was natürlich nicht sein. Die für diese Studenten zuständige Betreuungsdozentin musste dafür sorgen, dass die Wandzeitung mit den Ostereiern entfernt wurde. Das kam von der sowjetischen Seite, aber auch nur, wenn es so offizielle Dinge betraf. Ich habe das versucht zu erklären: „Ostern hat für uns mit Religion überhaupt nichts zu tun. Diese Mädchen, da bin ich ganz sicher, haben keine religiösen Ideen dahinter. Bei uns sind Ostereier was völlig Neutrales, ein Volksbrauch, so wie euer djed moroz, der auch mit dem Christkind nichts zu tun hat.“ Die Studentinnen hatten überhaupt nicht verstanden, was man von ihnen wollte, wieso das jetzt verboten war. Ich fürchte, man hat damit das Gegenteil erreicht, nämlich, dass die Studentinnen zum ersten Mal merkten: „Wieso wird denn hier so was verboten?“

Ja, ansonsten hatten wir ganz normale private Beziehungen, feierten zusammen Silvester, und da war ich eigentlich immer mit den russischen Studenten zusammen. Unsere Partys fanden natürlich zu Hause statt, das war alles nicht offiziell. Das ging ja nicht über die FDJ- oder die Komsomol-Gruppe, sondern wir lernten zusammen, haben uns auf die Prüfungen vorbereitet. Das war dann wechselseitig immer bei jemandem zu Hause. Geburtstagsfeiern fanden kaum im Wohnheim statt, weil meine Kommilitonen fast alle in Woronesch wohnten. Ich hatte drei, zu denen ich öfter nach Hause ging. Ich habe nie was von deren Familiengeschichten gehört, ob da jemand im GULag war oder wie die Familiengeschichten so aussahen. Und es kann auch sein, dass sie es selber nicht wussten, was mit den Großeltern war. Das war Tabu, darüber wurde nicht gesprochen.

Verlag Volk und Welt

Dann bewarb ich mich beim Verlag Volk und Welt. Ich ging zum Vorstellungsgespräch. Im Flur kam mir ein Herr entgegen. „Wer sind Sie denn?“, fragte er mich. Habe ich mich vorgestellt. „Reschke“, stellte er sich vor. Ich erst mal voller Ehrfurcht: „Der Thomas Reschke?“ „Ja, der Thomas Reschke.“ Und dann fing ich an, im Verlag zu arbeiten, war aber Lektorin. Das heißt, ich gehörte zu denen, die die Texte auswählten, die Zeitschriften und Buchveröffentlichungen lasen, das war eine wunderbare Arbeit. Wir lasen wirklich alle Neuerscheinungen aus der Sowjetunion.

Ich bekam zunächst die mittelasiatischen und kaukasischen Sowjetrepubliken zugeteilt, also alles, was da russischsprachig erschien. Dann kam das Baltikum dazu und am Ende auch die neuen russischen Autoren. Dazu gehörte auch Ljudmila Ulitzkaja. Ulitzkaja und ich werden bei Lesungen oft gefragt: „Wie habt ihr euch denn gefunden?“ „Na ja, eigentlich wie üblich. Ein Verlag kriegt ein Buch und sucht einen Übersetzer dafür. So war das bei uns auch.“ Das mit Ljudmila Ulitzkaja hat sich einfach wunderbar ergeben; dass wir eine sehr ähnliche Weltsicht haben, sehr ähnlichen Humor. Sie ist ja immer sehr ironisch. Als wir uns kennenlernten, war uns sofort klar: das passt.

In der Perestroika-Zeit gab es dann so eine Hoffnung, dass man jetzt viel verändern kann. Ich war ’89 in Moskau und da hatte sich gerade der alternative PEN, initiiert von Anatoli Pristawkin und Sergej Kaledin, gegründet. Da war ich bei so einer Versammlung; Aprel hieß die Bewegung, April. In der DDR waren wir ja noch nicht so weit – wir haben erst mal den Sputnik verboten. Da endete dann die offizielle Deutsch-Sowjetische Freundschaft.

Weil ich im Verlag relativ jung war, wurde ich DSF-Vorsitzende, das wollte ja sonst keiner machen. Und dann wurde ich zu einem DSF-Kongress delegiert, ’88 muss das gewesen sein. Ich wurde also für drei Tage abkommandiert, ging den ersten Tag auch hin. Dort wurden große Reden gehalten für das Sputnik-Verbot und warum die Perestroika uns nichts angeht. Ich bin aufgestanden und habe mich dagegen geäußert. Da hatte ich den ganzen Saal gegen mich und dachte: „Das ist aber eine hässliche Atmosphäre.“ Und bin am nächsten Tag zu meinem Verlagschef: „Tut mir leid, ich melde mich hiermit zurück zur Arbeit. Ich gehe da nicht mehr hin zu diesem DSF-Dingsda, das kann ich nicht.“ Kam am nächsten Tag der Parteisekretär des Verlages zu mir, obwohl ich gar nicht in der Partei war. Der wollte mich dazu bringen, mich anders zu äußern, also für das Sputnik-Verbot. Von-der-Sowjetunion-lernen-heißt-siegen-lernen war doch bislang unsere Losung, und auf einmal galt die nicht mehr. Damals lief der Film „Die Reue“ in der DDR in den Kinos, dieser georgische Film, Stalinismus-Aufarbeitung. Und da gab es einen ganz hässlichen Verriss im ND oder in der Jungen Welt. Und dagegen habe ich mich auch geäußert. Das alles wurde von der DSF verurteilt.

In dieser Zeit kamen russische Autoren in den Verlag Volk und Welt und wurden dem Publikum vorenthalten. Sie durften keine öffentlichen Lesungen hier machen. Weil das, was sie zu sagen hatten, hier nicht gehört werden sollte. Da gehörte Okudschawa dazu. Jewtuschenko und Wossnesenskij waren da. Und es gab keine öffentlichen Veranstaltungen mit ihnen, nur eine interne in der sowjetischen Botschaft. Im Verlag setzten wir mit Mühe so eine Art Pressekonferenz durch. Das war der Bruch: Als die Leute anfingen, sich dafür zu interessieren, was man in der Sowjetunion jetzt plötzlich versucht anders zu machen, ging diese deutsch-sowjetische Freundschaft hier in der DDR nicht mehr.

Ganna-Maria Braungardt
Archiv G.-M. Braungardt

Jetzt

Meine Russischlehrerin, die mit mir literarische Texte las und mir meine Phonetik wunderbar beibrachte, war eine Hundertprozentige. Jetzt ist sie auch schon 85. Der letzte Kontakt war nach der Krimbesetzung. Da hatten wir uns noch mal geschrieben und festgestellt, wir können uns nicht einigen, wie wir das finden. Sie ist also eher die Fraktion „Die Krim ist unser“. Und jetzt nach der Invasion in die Ukraine habe ich es gar nicht mehr versucht.

Interview: Uta Gerlant

Das Interview mit Thomas Reschke findet sich hier.

Unerwünschte Wege 2023