Erste Begegnungen 1945

In Danzig-Langfuhr war an einer Kreuzung ein Wohnhaus zerstört worden, war eingestürzt und hatte den Bürgersteig bis an die Bordkante verschüttet. Aus dem Schutt guckte das asiatische Gesicht eines sowjetischen Soldaten. Die Augen waren geschlossen und er lag da, tot. Nur das Gesicht guckte ‘raus, alles andere war verschüttet. Keiner hat sich drum gekümmert, schon gar nicht seine Kameraden und seine Genossen. Fünf Monate später wurden wir aus Danzig vertrieben und mussten von Langfuhr in die Altstadt von Danzig zum Bahnhof, wo wir in Güterwagen verladen wurden. Und wir kamen an diesem Schutt vorbei. Da lag der immer noch nach fünf Monaten. Das kalkverstaubte Gesicht guckte immer noch ‘raus.

Als die Russen Langfuhr eroberten, den Vorort, in dem wir wohnten, da wurde von der uns gegenüberliegenden Kaserne aus einer dieser russischen Panzer abgeschossen. Und der stand da und die Luke oben war offen. Ich mit meinen zwölf Jahren strolchte überall ‘rum. Bin ich auf diesen riesigen Panzer geklettert und habe ‘reingeguckt. Und da saß der Panzerkommandant, der saß noch in seinem Sessel, aber er war ganz klein, zusammengeschnurrt von der Hitze.

Die allererste Begegnung war Ende März ’45, da wurde Danzig von den Russen eingenommen. Und wir wurden aus unserer Wohnung vertrieben. In unserer Wohnung wurde eine Befehlsstelle eingerichtet. Tja, und dann sind wir bei Nachbarn in der Seitenstraße untergekommen. Da ist meine Mutter ein paarmal vergewaltigt worden. Ich war zwölf und wusste nicht, was passiert. Sie hatte das kleine Mädchen, meine Schwester Angela, drei Jahre alt, auf dem Arm. Und gab es nicht her. Das ist wohl zwei- oder dreimal passiert. Und dann ist uns eine Idee gekommen, wie wir sie verstecken können. Da kamen noch weitere Russen und wollten auch noch irgendwas. Aber sie fanden sie nicht. Das war so die Begegnung mit den Russen. Aber mit zwölf kann man das noch nicht emotional… Zumal ich keine bildhafte Vorstellung hatte, was da passiert. Das hat also bei mir keinen Hass ausgelöst.

Die russische Sprache

’45 – wir waren in Danzig-Langfuhr, die Schule fiel aus, Anfang März ungefähr. Ja, und im September wurden wir aus Danzig vertrieben. In Ludwigslust, wo wir unseren Vater wiederfanden, fing die Schule wieder an. Ich war schlecht in der Schule, hatte alles verlernt und ein halbes Jahr überhaupt nicht gelernt. Das einzige, das neu war, war Russisch. Und das hat mich interessiert. Da habe ich aufgepasst. Und eine gewisse Begabung für Sprachen habe ich vielleicht. Es gab nicht weit von uns eine Russenkaserne. Da kamen wir manchmal ins Gespräch und ich habe dort meine ersten Sprachbrocken praktisch verwertet.

Dann war ich ganz gut im Unterricht, konnte also bei Diktaten folgen und kleine Übersetzungen machen. Die anderen, die Klassenkameraden, haben zum Teil von mir abgeschrieben. Tja, und irgendwann hatten die Lehrer den Eindruck, dass bei mir der Knoten geplatzt ist. Jedenfalls habe ich ein ganz gutes Abitur gemacht, bin nach Berlin gegangen und habe Slawistik studiert. Ein Hass auf die Russen war bei mir eigentlich nicht da, trotz dieser Erlebnisse.

Der 17. Juni 1953 und Ungarn 1956

Aber dann war der 17. Juni. Ich hatte die Jugendhoffnung, dass nach der Nazizeit endlich was Neues anfängt. Aber dann beschloss Ulbricht, den Sozialismus aufzubauen. Das war nach meiner Erinnerung Anfang ’53. Dann wurden Fehler über Fehler gemacht und die Leute hatten einfach die Schnauze voll. Die wollten diesen Sozialismus nicht und gingen auf die Straße im Juni ’53. Da saß ich in meinem möblierten Studentenzimmer und hörte im RIAS, dass im Krankenhaus Friedrichshain, das eine Baustelle war, die Bauarbeiter gestreikt haben. Da dachte ich: „Das kann gar nicht stimmen.“ Ich war ein bisschen beeinflusst von der DDR-Propaganda. Das war am 15. Juni ’53 und am 16. in der Mittagszeit – ich machte damals ein Praktikum im Deutschen Verlag der Wissenschaften – habe ich den Verlag verlassen. Ich bin zur Universität gegangen, um meine Freunde zu treffen und in der Mensa Mittag zu essen. Aber gegenüber der Universität war die Baustelle der Staatsoper. Die lag ziemlich kaputt vom Krieg und es wurde dran gebaut. Da waren lauter hell gekleidete Bauarbeiter. Und da standen auch ein paar Studenten, die ich kannte, einer mit FDJ-Bluse. Da bin ich hin. Ich sage: „Ja, was ist denn hier?“ „Wir streiken.“ Da wusste ich, ich hatte richtig gehört im RIAS. Und dann wurde mir erzählt, sie seien zum Haus der Ministerien gegangen. Da kamen sie die Friedrichstraße lang, und da habe ich mich angeschlossen. Also, ich bin auf dem Bürgersteig nebenher gegangen. Ich war fasziniert. Es gab Sprechchöre: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!“ Gemeint waren Ulbricht, Pieck und Grotewohl. Am Spätnachmittag gab es noch eine Versammlung in der Universität, wo die Studenten Missstände anprangerten. Und die Demonstranten hatten bekanntgemacht, dass am nächsten Morgen um sieben Uhr am Straußberger Platz ein Protest beginnt. Da bin ich in aller Frühe zum Straußberger Platz gefahren und hab’ mir das angesehen. Bin dann in den Verlag gegangen. Da fand auch eine Streikversammlung statt und es war eine derartige Aufbruchsstimmung! Ich weiß, dass ich da wahrscheinlich mit leuchtenden Augen dabei gesessen habe. Ja, und dann wollten die Verlagsmitarbeiter auch streiken. Aber da sind ein paar Rote immer wieder aufgestanden, haben gesagt: „Nein, das geht nicht und wir müssen doch…“ Also Zeit gewinnen… Da wurde die Tür aufgerissen, es kam einer ‘reingestürmt. Der hatte Blut am Mantel. Das war einer von der Partei. Und der schrie: „Russenpanzer, Russenpanzer!“ Ich dachte, ich hör’ nicht richtig. Die Streikversammlung wurde abgebrochen. Er hatte auch ein Flugblatt mitgebracht, Unterschrift Generalmajor Dibrowa: Alle haben sich nach Hause zu verfügen. Wenn drei beisammen stehen, wird geschossen usw. Ich bin dann wieder zur Universität gegangen. Vor dem Zeughaus stand eine Menschenmenge, da war eine Frau von einem Panzer zerquetscht worden. Ich habe nur noch die Blutlache gesehen. Und darüber war eine Mörtelmolle mit einer Fahne. Dann kamen die Panzer schon die Linden entlang gedonnert. Na, nun wusste ich, wie es ist mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft.

Drei Jahre später – da war ich schon im Verlag Kultur und Fortschritt – begann die Revolution in Ungarn, der Aufstand, das haben wir verfolgt. Denn damals war noch keine Mauer. Wir haben in Westberlin alle Informationen bekommen, in den Wochenschauen. Und haben uns brennend interessiert. Angefangen hat es mit einer Studentendemonstration, die sich im ganzen Land ausbreitete. Die Russen haben erst eingegriffen, sich dann aber doch zurückgezogen. Und wir dachten schon, die Revolution gewinnt. Aber sie gewann nicht. Am 4. November kamen die Panzer zurück. Und dann gab es Bürgerkrieg in Budapest. Da sind viele junge Ungarn gefallen damals. Aber sie haben auch viele Panzer der Russen abgeschossen. Zum Teil mit Geschützen aus dem Kriegsmuseum. 1957 hatte ich eine Touristenreise nach Ungarn. Überall sind wir mit den Ungarn ins Gespräch gekommen. Ich habe gierig das Gespräch gesucht und habe mich informiert, wie ich nur konnte. Und damit war mein Weltbild dann für dieses Leben gebildet.

Vom Übersetzen und von Schriftstellerfreunden

Die Autoren in Russland gingen davon aus, dass man ihr Buch ausgesucht hat und waren dem Übersetzer dankbar. So entstanden Freundschaften. Ich habe Leute kennengelernt: Tendrjakow, Trifonow, Aitmatow und andere. Und Kasakow natürlich. Tendrjakow war ein feiner Kerl. Die jüngere Generation: Jewtuschenko, Axjonow. Das da ist Wassili Axjonow, mit dem ich sehr befreundet war. Ist leider schon zehn Jahre tot.

Die Schriftsteller haben uns manchmal was mitgegeben, was sie gar nicht durften. Wir haben von Tendrjakow Manuskripte gekriegt. Die Witwe von Bulgakow hat uns alle Texte gegeben. Wir konnten sie nicht gleich veröffentlichen. Später dann ja. Übrigens, jetzt muss ich mal angeben: die beiden Bücher-Reihen sind Übersetzungen von mir. Ja, und hier sind noch drei Reihen. Und da steht die Bulgakow-Ausgabe 16 Bände, die grauen. Habe ich alle übersetzt. Ich stehe manchmal davor und wundere mich, wie ich das geschafft habe.

Axjonow – das war eine Wonne mit dem. Er stand in Zusammenhang mit der Metropol-Affäre. Da hat eine Gruppe von russischen Schriftstellern ein Manuskript zusammengestellt in zehn Exemplaren. Damit waren sie nicht an die Zensur gebunden. Das war ein Riesenalbum, da haben sie die Manuskriptseiten eingeklebt. Ein Exemplar bekam die amerikanische Botschaft, eins die französische, eins haben sie selber behalten. Eins gaben sie an die russische Presse, eins an den Schriftstellerverband. Dann hat der Staat natürlich seine Maschinengewehre aufgestellt, und da musste Axjonow ausreisen. Er wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. War schlimm genug. Dabei waren das im Grunde harmlose Texte. Chruschtschow, nachdem der gestürzt war, hat „Doktor Schiwago“ gelesen, den ich ja auch übersetzt habe. Da sagt er: „Ich weiß gar nicht, warum ich ihn so angegriffen habe. Das ist ja ganz harmlos, das Buch.“ Na gut, harmlos ist es nicht. Aber, es zu verbieten gibt’s gar keinen Grund.

Reisen in die Sowjetunion

Ich habe mir mein Leben lang den Mund verbrannt. Immer wieder. Es liegt mir nicht zu überlegen, ob es zweckmäßig ist, dass ich jetzt so etwas sage. Russland hatte alle zwei Jahre Übersetzerkonferenzen eingerichtet. Ich bin ein halbes Dutzend Mal mitgefahren. Auf diese Art bin ich bis nach Kirgisien gekommen. Aber auch nach Kasan. Und in Kasan, da habe ich mir eine Frechheit geleistet. Das ist die Hauptstadt der Tatarischen ASSR. Es gab eine Begegnung mit den Schriftstellern dort. Da habe ich mich gemeldet, habe gesagt: „Wenn ich mich mit Russen unterhalte, dann wird mir immer wieder gesagt: ‚Ja, es gibt Missstände in Russland. Aber wir hatten ja auch zwei Jahrhunderte lang das tatarische Joch.‘ Sie kennen das aus der Geschichte. Die Russen zitieren das heute noch. Lassen sie euch Tataren merken, dass sie euch das nachträglich noch übel nehmen?“ Und das war von mir eine Unverschämtheit! „Ja und nee…“ haben sie ‘rumgeeiert.

Der Sekretär des Schriftstellerverbandes in Georgien, der war unser Betreuer und war natürlich auch ein Stasimann, weil wer in Russland mit Ausländern arbeitet, ist Stasi. Das muss man wissen, das ist immer so. Naja, und er und noch ein anderer, auch vom Schriftstellerverband, die beiden waren irgendwie Kumpane und erzählten von früh bis spät Witze. Und das waren durchweg antiarmenische Witze. Es ging mir sehr auf den Wecker, dass sie immer wieder mit dem Nachbarvolk haderten und im Grunde gemeine Witze erzählten.

In Armenien waren wir in einer Markthalle. Dort gab es an einem Stand Spanferkel zu kaufen. Ich habe gefragt, was die kosten. „20 Rubel“, sagte der vom Schriftstellerverband. Wir hatten noch einen mit aus Moskau, der ein Kumpel war. Der sagte nachher: „In Wirklichkeit kosten sie 40. Aber der hat gesagt: ‚Den Ausländern müssen wir ja nicht alles erzählen.‘“ Das stimmte alles von vorne und hinten nicht. Und das geht bis in die Bevölkerung hinein.

Ich bin mit einem Freund nach Gagra gefahren. Dort gab es ein Schriftstellerheim. Aber es regnete. Im Haus war so ein kleiner Kiosk, da kriegte man zwar sehr hässliche Ansichtskarten, aber besser als gar keine. Da haben wir Karten geschrieben. Und dann habe ich dort gefragt: „Wo können wir die einwerfen?“ „Die Post ist hier schräg gegenüber!“ Ein modernes Postgebäude, Neonröhren. Ein Briefkasten, ein Stapel Postkarten, rein in den Briefkasten. Platsch, lagen die Postkarten auf dem Asphalt. Der Briefkasten hatte keinen Unterboden. Das ist Russland.

Und in dem Erhoilungsheim in Gagra waren einige Nichtschriftsteller, die durch Schmiergeld die Reiseschecks bekommen hatten. Aber es war auch ein tschechischer Schriftsteller da, der Doktor Stingl. Und eines Tages bin ich mit ihm spazieren gegangen und wir haben über Gott und die Welt geredet und kamen in der Nähe des Bahnhofs zu einer schön gepflegten Gartenanlage. Da haben wir uns auf eine Bank gesetzt und uns unterhalten. Und dann näherte sich uns ein Mann, hager, ungefähr 60 Jahre alt, sehr bescheiden gekleidet, fast schäbig. Der setzte sich zu uns und sagte eine Weile nichts. Nach einer Weile tippte er mir auf die Schulter und sagte: „Hör mal. Ich höre, ihr redet in einer Fremdsprache, ihr seid keine Russen, was?“ „Nee“, sagte ich, „wir sind keine Russen.“ „Was seid ihr denn? Seid ihr Deutsche?“ Habe ich gesagt: „Ich bin deutsch und mein Kollege ist Tscheche.“ Da regte er sich auf: „Wir haben Hitler im Schwarzen Meer ersäuft. Ich war dabei. Wir haben ihn im Schwarzen Meer ersäuft.“ Und das hörte nicht auf. Ich begriff, dass gemeint war, er hat die Deutschen dort als Soldat bekämpft. Ich hab’ mir das eine Weile angehört. Dann habe ich gesagt: „Lieber Freund, wir müssen jetzt weiter, mach’s gut.“ Da fasst er mich am Arm und sagt: „Hast du nicht mal zwanzig Kopeken für Zigaretten?“ Dachte ich: „Reschke, da kommste ja billig weg.“ Und hab gesagt: „Hier hast du’n Fuffziger, für 20 kriegst du doch keine Zigaretten.“ Da nahm der meine Hand und küsste sie. Das hat mich sehr lange beschäftigt.

Gaunersprache und Ganoven

Ich habe unter anderem Kriminalromane von Arkadi Adamow übersetzt. Und eines Tages, in der ersten Hälfte der 80er Jahre, kam Adamow nach Berlin und wir verabredeten uns im Hotel Stadt Berlin am Alexanderplatz unten im Foyer. Da saß ein älterer Herr, mit dem ich ins Gespräch kam. Es stellte sich raus, dass er auf Adamow wartete, weil Adamow einen Freund bei sich hatte, mit dem er nun wieder befreundet war. Kurz und gut, wir saßen und unterhielten uns und da erzählte ich ihm, dass ich von Adamow die Kriminalromane übersetzt habe. „Was“ sagte er, „sie waren das?“ Er hat irgendwelche gelesen, sagte er. „Da sind ja die ganzen Gaunerausdrücke drin. Woher kennen sie die?“ Ich sagte: „Naja, das muss man sich zusammenlesen.“ Und dann habe ich ihm einiges erzählt über die sowjetische Unterwelt. Sie werden vielleicht den Film Kalina Krasnaja gesehen haben. Der Hauptheld hat irgend ‘ne Unterschlagung begangen und wird im Straflager geläutert. Und will zurück ins ehrliche Leben. Das darf er nicht, weil er Mitglied der Unterwelt ist. Aber er hat eine bürgerliche Frau kennengelernt, möchte sie heiraten. Der Film endet damit, dass zwei Ganoven ihm auflauern und ihn erschießen. Und der deutsche Zuschauer wird entlassen und weiß nicht: Warum? Weil die Todesstrafe vollstreckt wird! Weil er ‘raus will aus der Unterwelt. So was alles erzählte ich diesem älteren Herrn, der ein Freund von Adamows Freund war. Und der guckte mich an und sagte: „Mein Gott, was Sie da alles wissen. Ich gehöre zum Obersten Gericht der DDR. Wollen Sie nicht mal zu uns kommen und darüber einen Vortrag halten?“ Da habe ich gesagt: „Um Gottes willen, wenn das die sowjetische Botschaft erfährt, und sie erfährt es! Dann kann ich mein Köfferchen packen und mich nach Sibirien auf den Weg machen.“ „Nein, nein! Ich rufe Sie an.“ Da habe ich ihm meine Telefonnummer gegeben. Ein paar Tage später wollte der Zufall, dass ich diesem alten Herrn begegnete. Er guckte mich an und sagte kleinlaut: „Sie hatten recht, es geht wirklich nicht.“

Ich hatte einen russischen Ganoven hier kennengelernt. Der hat mich in die ganzen Geschichten eingeweiht. Ich war der erste in der DDR, der das wusste. Und der sagte mir unter anderem: „In der Breschnew-Regierung ist ein Mann, der ist ein wor v sakonje, der ist Mitglied der Unterwelt.“ Ich habe gesagt: „Das kann nicht sein.“ Gemeint ist der sowjetische Innenminister Schtscholokow. Der war ein Gauner. Der hat überall, wo Beschlagnahmungen waren, sich alles vorlegen lassen und sich die besten Stücke selber ausgesucht. Die Politik ist damit sehr verquickt. Und die Wirtschaft sowieso. Also das sind Dinge, die glaubt man gar nicht. Ich wusste vielleicht als einziger in der DDR, dass ein Berufsverbrecher Mitglied der russischen Regierung war, Schtscholokow. Als das rauskam, hat er sich erschossen.

Bulgakows „Der Meister und Margarita“

Es kam eine geheimnisvolle Postsendung, anonym, eine Broschüre. Da gab es ein Titelblatt „Bulgakow. Der Meister und Margarita“. Ich fing an zu blättern. Es war die komplette Liste der von der Zensur gestrichenen Stellen – 180 Stellen. Angefangen bei einem Wort bis hin zu zwölf, 13 Manuskriptseiten. Das eine Wort – die Geschichte erzähle ich gerne: Die nackte Margarita reitet auf dem Besen über das nächtliche Moskau. Und schreit: „Nevidima i svobodna, nevidima i svobodna.“ – „Unsichtbar und frei, unsichtbar und frei.“ Was lese ich in der russischen Ausgabe? Nur „unsichtbar“, „und frei“ war denen nicht… Das ist so blamabel, das ist so beschissen, auf Deutsch gesagt, „…und frei“ zu streichen. Also von der Qualität waren da noch mehr Streichungen. Die längsten betrafen geheimpolizeiliche Aktivitäten, die waren ‘rausgenommen. Und Valutaläden, die es in der DDR ja auch gab, in Moskau haufenweise, Berjoska hießen ‘se. Die Anspielungen darauf waren alle gestrichen. Ja, trotzdem war zu erkennen, dass es ein ganz großes Buch ist. Ich habe es also Russisch gelesen. Ich war begeistert und hab’ gesagt: „Das könnt ihr mir geben.“ Und sie haben es mir gegeben. Ja, das war ein Glücksfall. Ich habe versucht, schon in der DDR zu erreichen, dass die gestrichenen Stellen kursiv gedruckt werden. Aber da haben sie gesagt: „Nee, nee, das vergiss mal!“

In Moskau gibt es ein Bulgakow-Museum. Die Programmchefin Frau Sawranskaja war hier. Wir haben über alles Mögliche gesprochen. Sie hat in ihrem Museum eine Ausstellung eingerichtet aus Anlass des 50. Jahrestages des Erscheinens der deutschen Übersetzung. Das ist eine Ehre! Ich weiß keinen Übersetzer, dem so etwas widerfahren ist.

„Der Meister und Margarita“ ist ein Menschheitsroman. Bulgakow hat unermüdlich gepredigt: „Die größte Sünde der Menschen ist die Feigheit.“ Aber eine Lösung weiß er auch nicht. Der Meister und Margarita landen zum Schluss in einer Art Paradies, wo sie Ruhe finden sollen. Und der Teufel hat das eigentlich mit bewirkt. Ob das aber reicht, um daraus Hoffnung zu schöpfen, das ist schwer zu sagen. Ich weiß es nicht. Ich könnte die Frage für mich gar nicht beantworten.

Hoffnung?

Ich habe in meinem Freundeskreis Menschen, die wirklich mit ihrem Herzblut an Russland hängen, weil sie zum Teil lange dort gelebt haben. Und die mir jetzt weinend gesagt haben, sie können nicht mehr und das geht gar nicht, und das sind ja Verbrechen, die die Russen da begehen. Nein, das geht natürlich nicht mehr. Also, was daraus wird, weiß ich nicht.

Thomas Reschke
Foto: U. Gerlant

Nein, ich habe keine Hoffnung, gar keine. Das Volk ist korrumpiert bis in die arschgraue Pechhütte. Das macht ja mit, das kennt ja eigentlich nur die Propaganda, bis auf ‘ne dünne Intellektuellenschicht, die irgendwelche westlichen Radiostationen hören kann. Der Putin hat große Unterstützung in seinem Land mit einer gewaltigen Mehrheit, wahrscheinlich 60, 70, 80 %. Aber je mehr Tote in Zinksärgen da angeliefert werden, desto mehr wird sich das aufweichen. Bloß was nützt das? Das Land ist kaputt, ich sehe gar keine Hoffnung.

Interview: Uta Gerlant

Unerwünschte Wege 2023