Überlieferung und Nachbarschaft

Meine Tante hat erzählt, dass meine Urgroßeltern im Ersten Weltkrieg einen deutschen Soldaten pflegten. Er hat lange in der Familie gelebt. Und meine Oma war in ihn verliebt. Als er dann gesund war, wollte sie mit ihm nach Deutschland ziehen. Aber ihre Eltern haben es ihr nicht erlaubt. Diese Tat meiner Urgroßeltern wurde sozusagen auf andere Weise belohnt – die Begegnung mit Uta und ihrer Familie ist wie ein Geschenk. Ich kann es nicht anders erklären, aber ich weiß: Jede gute Tat bleibt. Das verwest nie und es überdauert die Generationen. Auch die Liebe, es zählt nur sie. Alles andere vergeht.

Freundinnen: Danguolė und Uta 2017
Archiv U. Kielstein

Meine Mutter verglich deutsche Soldaten mit russischen Soldaten. Mein Vater hatte während des Krieges von einem deutschen Soldaten Schokolade bekommen. Er sprach mit großer Freude von dieser Begegnung. In der Schule habe ich nur Schlechtes über deutsche Soldaten gehört. Ich dachte, im Krieg geht es um Töten und Zerstörung. Ich sah die Ruinen des Zweiten Weltkriegs jahrelang in der Stadt stehen. Ich konnte nicht verstehen, wie Menschen während eines Krieges freundlich zueinander sein können. Die Geschichten meiner Eltern über die deutschen Soldaten haben meine Einstellung verändert: Menschen können trotz des Krieges unterschiedlich sein.

Unsere Nachbarn waren Deutsche: eine Frau, die ein Wolfskind gewesen war, mit ihrer Tochter. Wir sind zusammen in die Schule gegangen, und manchmal haben wir uns getroffen und draußen gespielt. Sie hat erzählt, dass ihre Mutter eine Deutsche ist. Ein anderer Nachbar war Schuster. Keiner sagte, dass er ein Deutscher ist, aber wenn man zu ihm kam, dann merkte man an seiner Sprache und seinem Benehmen, dass er anders ist. Diese Familien waren ein bisschen ein Geheimnis. Es wurde wenig gesprochen: “Still, still, damit niemand was sagt.” Wir wollten nicht, dass es ihnen schlecht geht. Im Volk gab es ein anderes Verständnis über die Deutschen und die Russen als offiziell in der Schule oder im Radio.

Ein Weihnachtskonzert für Matrosen

Meine Heimatstadt, in der ich aufgewachsen bin, ist die Hafenstadt Klaipėda. Ich besuchte einen Mädchenchor. Zu Weihnachten wurde der Chor zu einem Konzert in den Interklub [Internationaler Klub der Seeleute] eingeladen. In der Sowjetunion war Weihnachten verboten. An Heiligabend gingen wir zur Schule. An diesem Tag gab es – mehr als sonst – verschiedene Verpflichtungen. Mit den Ausländern des Interklubs habe ich das Fest wirklich erlebt: Es gab Deutsche, die ohne Angst Weihnachten feierten. Die Dolmetscher sprachen kalt und offiziell auf Russisch mit uns, ohne das Wort “Weihnachten” zu erwähnen. Dennoch herrschte eine furchtlose Atmosphäre. Die Matrosen begrüßten den Chor mit Freude. Sie schenkten uns viel Aufmerksamkeit, Dankbarkeit und menschliche Wärme. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Als kleines Mädchen sah ich Deutsche und wusste nicht, woher sie kamen. Sie sprachen mich sogar persönlich an und umarmten mich. Trotz meiner Schüchternheit habe ich ein paar Worte auf Deutsch gesagt. Diese Menschen waren anders als die, welche ich sonst auf der Straße oder im Bus sah.

Ich habe nie direkten Kontakt zu einer offiziellen Gruppe von Menschen aus der DDR gehabt. Von offiziellen Treffen hielt ich mich fern. Die deutsche Sprache und die Musik deutscher Komponisten waren für mich aus einer anderen Welt, in die ich jederzeit Zuflucht nehmen durfte.

Deutschunterricht und Briefwechsel

Meine erste Begegnung mit Deutschen hatte ich in meiner Kindheit. Ich habe in der Schule Deutsch gelernt. Der Deutschunterricht war interessant, manchmal sogar lustig, und ich habe ihn genossen. In der vierten Klasse empfahl unsere Lehrerin, dass wir Kontakt zu deutschen Schülern aufnehmen sollten. Wir beschlossen, gemeinsam einen Brief zu schreiben. Diesen Brief schickten wir in die DDR. Ich stand dann mit einigen Schülern in Briefwechsel. Über diesen Austausch war ich sehr glücklich. Als ich 13 Jahre alt war, habe ich an einem Kiosk die deutsche Kinderzeitschrift ABC gekauft und einen Brief an den Herausgeber der Zeitung geschickt, in dem ich um die Adresse eines Mädchens bat. Unerwarteterweise kam schnell eine Antwort mit einer Adresse. Dann kam ein Brief von einem lieben Mädchen namens Uta Kielstein. Ich habe mich sehr über Uta gefreut, über unsere ähnlichen Interessen, über die Tatsache, dass sie Flöte spielte. So traten Uta und ihre Familie in mein Leben. Zu Beginn unserer Freundschaft stellte sich die Frage, in welcher Sprache wir korrespondieren würden. Ich war völlig überrascht, denn Uta konnte gut Russisch. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie sogar ihren ersten Brief auf Russisch geschrieben. Für mich war Russisch nicht erstrebenswert. Ich hörte jeden Tag Russisch und hatte keine Freude daran.

Litauer als Feinde

In der Schule hörte ich ständig vom Zweiten Weltkrieg. Die Russen haben den Krieg gewonnen. Feinde waren nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die Litauer, die nach dem Krieg gegen die sowjetische Besatzung kämpften. Zu den Feinden gehörten auch reiche Leute und die Kirche. Ich hatte den Eindruck, dass die Russen die einzigen Guten sind. Reiche Menschen sind schlecht, die Kirche ist dunkel, und andere, die nicht zum Sowjetblock gehören, sind gefährlich. Neben den Deutschen galten auch die Litauer als Nazis. Ich hörte diese Aussagen nicht nur in der Schule, im Radio und im Fernsehen, sondern auch auf der Straße, wenn ich Russen begegnete.

Ich habe oft von den Russen gehört, dass sie uns befreit haben. Ich konnte es nicht verstehen. Ich dachte: “Wenn sie so gut sind, warum geben sie uns dann keine Freiheit? Warum unterdrücken sie die litauische Kultur, zwingen uns Russisch zu sprechen und verbieten uns an Gott zu glauben?” Mehrmals riefen mir Russen auf der Straße zu, dass sie uns befreit hätten. Wenn sie uns aber die Freiheit gebracht haben, warum dürfen wir uns dann nicht frei bewegen? Warum dürfen wir nicht Litauisch sprechen und warum haben die Russen überall Vorrang? Die Russen sagten, dass sie Freundschaft zwischen allen Völkern wollen. Leider waren sie arrogant, sie hatten Privilegien und schauten auf uns herab.

Ich wusste, dass wir von den Russen besetzt waren. Ich fühlte mich in der Schule wie in einem Gefängnis. Man durfte nicht sagen, was man dachte. In der Öffentlichkeit Litauens habe ich große Spannungen gespürt. In der Schule betonten sie ständig den Frieden und erzählten nur vom Krieg. In Kriegen gibt es keine Gewinner. Wenn die Russen, wie sie sagten, uns befreit haben, weil sie den Krieg gewonnen haben, und uns dann schlecht behandelten, dann ist es nicht gut, ein Sieger zu sein. 

So entwickelte ich eine Zwei-Lager-Weltanschauung. Auf der einen Seite standen die Russen, auf der anderen Seite die Deutschen. Eine schwarze Wolke zog über mich hinweg.

Kontrastprogramm DDR

Als Kind dachte ich, es sei besser, in der DDR zu leben als in der Sowjetunion. Die Deutschen in der DDR können Deutsche bleiben, ihr Leben unabhängig von den Russen aufbauen, ihre Kultur in ihrer eigenen Sprache entwickeln und werden nicht unterdrückt. Jedes Jahr kamen Weihnachtsgrüße aus der DDR. Ich war überrascht, weil wir Weihnachten nicht feiern durften, deshalb hatte ich eine gute Meinung über die DDR. „Demokratische Republik” klang gut für mich.

Erst als ich mit Utas Vater sprach, erfuhr ich, dass die Kinder in der Schule kontrolliert wurden, vor allem, ob sie Westfernsehen schauen. Ich hätte nicht gedacht, dass man im Fernsehen westliche Programme sehen konnte (wir hatten nur zwei Programme: ein lokales aus Vilnius und eines aus Moskau). “Deshalb haben wir auch keinen Fernseher”, erklärte Utas Vater. Das Gespräch mit ihm hat meine Sicht verändert. Mir wurde klar, dass man, auch wenn man nicht in der Sowjetunion lebt, immer noch unter einem kommunistischen Regime lebt. Das war die erste Veränderung in meiner Wahrnehmung der DDR.

Wie konnten die Russen ihre Macht in der DDR ausüben? Ich erfuhr von der russischen Armee, und das machte mir Angst. Ich habe an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin Soldaten gesehen. Ich habe die Mauer gesehen und von den Flüchtlingen gehört. Es war erschreckend.

In Berlin haben wir den kommunistischen Palast besucht. Als ich die vielen Fotos von Moskau und der Freundschaft mit den Russen sah, war ich enttäuscht. Gleichzeitig war ich überrascht, dass dieser Palast für alle Menschen offen war. Es herrschte eine entspannte Atmosphäre.

Ich hatte den Eindruck, dass ich die Unterschiede zwischen der Idee des zukünftigen Kommunismus in Litauen und Deutschland spüren konnte. In der DDR wurde die kommunistische Zukunft anders verkörpert; ich sah dort keinen Sinn für inneren Widerstand.

Ich wusste, dass bei uns in jedem Kollektiv Menschen vom KGB verraten und verfolgt wurden. Ich wusste, dass ich aufpassen musste, meine Gedanken nicht laut auszusprechen, keine eigene Initiative zu ergreifen. In der DDR fühlte ich mich furchtlos. Die Gespräche mit Utas Vater, seine Gedanken zur politischen Macht haben mich innerlich befreit.

In der DDR habe ich gelernt, dass es viele Formen von Besatzung gibt. Nach dem ersten Besuch wurde dieses fragmentierte Bild in mir verstärkt und hat sich nicht mehr geändert.

Gegenseitige Besuche

Mein erster Besuch bei Uta war 1976, als Breschnew an der Macht war. Im Zug habe ich erfahren, wie unwillkommen Russen in anderen Ländern sind, z. B. in Polen, obwohl die Sprache ähnlich klingt. Wenn mich Leute ansprachen und fragten, woher ich komme, sagte ich Litauen. Ich schämte mich dafür, aus der Sowjetunion zu kommen. Litauen war unbekannt, also musste ich es erklären. Man nannte mich Russin. Diese Erfahrung hat die Ablehnung in mir verstärkt. Infolgedessen lehnte ich die kommunistische Sowjetregierung zunehmend ab und empfand Hass gegenüber den russischen Machthabern im Allgemeinen. Erst später erzählte mir zum Glück jemand, dass sich die Russen in Russland ganz anders verhielten als die in Litauen.

1976 lud mich meine liebe Uta ein, sie zu besuchen. Das war eine große Überraschung. Es war mir nicht erlaubt, allein ins Ausland zu reisen, denn ich hatte noch keinen Reisepass. Zunächst einmal stellte sich die Frage, ob die Reise nach Deutschland genehmigt werden würde, da wir nicht mit der Familie Kielstein verwandt waren. Wir haben uns gefreut, die Familie kennenzulernen.

Wir haben auch überlegt, wie wir die Familie Kielstein einladen können, da damals Ausländer nur nach Vilnius einreisen durften. Die Cousine meiner Mutter lebte in Vilnius. Tante Rima war bereit, Utas Familie in ihrer Wohnung aufzunehmen, auch wenn diese nicht groß war.

So reisten wir erst einmal zu dritt nach Dessau: meine Mutter, meine Tante und ich. Bis dahin war es eine stressige Zeit. Ich war nicht nur glücklich, sondern hatte auch Angst vor dem KGB, der uns nun alle kontrollieren würde. Wir wussten nicht, ob alle Mitglieder unserer Familie sozusagen politisch „korrekt“ waren. Nach dem Vermächtnis meines Großvaters durfte sich niemand mit den Kommunisten anlegen. Noch im Sommer 1976 fuhren wir mit dem Zug Leningrad-Paris von Vilnius nach Dessau. 

Die Familie Kielstein hieß uns willkommen. Ich habe mich sehr wohl gefühlt. Es gab Gespräche zwischen den Eltern, deren Inhalt ich nicht immer verstanden habe. Aber ich genoss die Aufmerksamkeit. Uta und ihr Vater sprachen Russisch. Meine Mutter und meine Tante Rima hatten während der deutschen Besatzung auf dem Gymnasium Deutsch gelernt. Die Familie Kielstein war sehr gastfreundlich. Wir haben das schöne Land ohne Einschränkungen erkundet. Der Schwerpunkt lag auf der Kultur: Ausstellungen, Konzerte, Schlösser und Parks. Ich hatte den Eindruck, dass das Leben in der DDR ein wenig freier war. In meinen Augen schienen die Menschen sehr freundlich zu sein.

In der Familie Kielstein habe ich Geborgenheit und Liebe erfahren. Ich konnte mich gut erholen und bereichert nach Litauen zurückkehren. Mir wurden jedoch nicht nur geistige, sondern auch materielle Gaben verliehen, eine Geige geschenkt. Die Treffen waren voller Freude. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit Uta über Politik gesprochen hätte. Ich besuchte Uta vielleicht fünfmal. Einmal war ich in Weimar, als sie dort studierte. Wenn ich bei ihrer Familie in Dessau war freute ich mich, Utas Großmutter Hanna zu treffen. Sie hat großen Eindruck auf mich gemacht und meine Lebensfreude gestärkt. Ich kann nicht vergessen, dass sie mehr als jeder andere in meinem damaligen Leben meinen Glauben gestärkt hat. Sie sprach offen und überzeugend über Gott und seine Wunder – unvergesslich. Sie gab mir Halt und Hoffnung.

In der DDR habe ich keine Einschränkungen erlebt. Wir durften uns überall frei bewegen. An der russischen Grenze gab es strenge Vorschriften, worauf wir achten mussten, und wir durften nur wenige Lebensmittel und Geschenke mitnehmen. Die deutschen Zollbeamten waren höflich und ruhig und kontrollierten lediglich die Ausweispapiere. Die Rückfahrt war einfacher und die Atmosphäre im Zug entspannter. Auf dem Rückweg habe ich keine strengen Kontrollen erlebt.

Ich war fasziniert von der Kultur und Kunst der DDR, die ich durch Uta kennengelernt habe, und konnte meinen Geschmack entwickeln. Ich bin sehr froh, dass die Beziehung zu Uta und ihrer Mutter bis heute hält.

Interview: Uta Gerlant

Das Interview mit Uta Kielstein findet sich hier.

Unerwünschte Wege 2023