Meine Eltern haben sich sehr früh scheiden lassen, also lebte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester in einem reinen Frauenhaushalt. Um ehrlich zu sein, wusste ich bis ich 30 war gar nicht wirklich, wer mein Vater ist, weil er nie da war und es keinen Kontakt geben durfte. In meiner Vorstellung war er Musiker, ein Künstler. Er hatte tatsächlich einmal Saxofon gespielt, doch später erfuhr ich, dass er gelernter Tischler war und in einer Holzfabrik irgendwo in Oranienburg gearbeitet hat und keine Musik mehr machte. Meine Mutter hatte mir eine Gitarre gekauft, ich ging sehr früh und lange in eine Musikschule. Die Musik war eine Art geheimes Band zu meinem Vater. Das blieb auch so, als wir nach Köpenick umgezogen sind.
In meiner Oberschule dort hatte ich eine großartige Russischlehrerin. Ich erinnere mich, dass sie wirklich gut war, sehr streng, aber nie emotional. Sie hat viel abgefragt und Kontrollen gemacht, man musste wirklich lernen. Aber wenn es Probleme gab, war sie ganz mild. Es war eine tolle Frau, es machte mir Freude, sie anzugucken und ihr zuzuhören. Ich hatte zum Beispiel eine Physiklehrerin, deren Stimme ich so schlimm fand, dass ich gleich mal nichts gelernt habe. Diese Stimme war unerträglich für mich.
Die DDR und der Westen
Natürlich war das offizielle Denken geprägt von den Vorgaben der DDR-Regierung. Zudem gab es die noch nahen Erfahrungen der Nachkriegszeit und auch Ressentiments waren gang und gäbe. Russen waren eher Okkupanten. Meine Familie war nicht linientreu. Wir hörten RIAS und waren eher westlich orientiert. Durch das Westfernsehen, also die Medien der Bundesrepublik, nahmen wir auf, was von dort gesendet wurde. In der Schule hatten wir aber Staatsbürgerkunde und lernten politisches Deutsch bzw. wurde es dort abgefragt. Wir waren in dieser Hinsicht das typische Produkt dieser Polarität. Meine Mutter hat mit uns sehr offen darüber gesprochen.
Die ganze weibliche Linie der Verwandtschaft lebte im Westen. Sie kamen eher selten zu Besuch und schickten zu den Feiertagen die typischen Westpakete. Wir durften ja nicht zu ihnen reisen, nur meine Mutter konnte ein paarmal in den Westen fahren, weil eben ihre Mutter dort war. Unsere Verwandten wohnten in West-Berlin im Wedding. Ich erinnere mich an die Geschichte mit dem Friedhof. Ich weiß nicht mehr, wer beerdigt wurde, aber ich erinnere mich, dass sich die Familie zu einer bestimmten Uhrzeit verabredet hatte, um sich zuzuwinken: sie waren auf der einen Seite der Mauer und wir auf der anderen Seite und da war noch der Friedhof. Das ist so ein merkwürdiges Erlebnis, das sich mir tief einprägte.
Natürlich hörten wir viele schlimme Geschichten über Russen und über die Tragödien, die sie mit sich gebracht haben. Aber das steht für mich in gar keinem Zusammenhang mit den darauffolgenden Freundschaften, die ich mit Russen hatte. Diese Sippenhaft lehne ich ab, denn sonst wäre es unmöglich zu leben. Es ist wichtig, sich mit der eigenen Herkunft der Familien und der Geschichte zu beschäftigen, aber bei persönlichen Beziehungen kommt es immer auf die direkte Begegnung an, und auch auf die Ausrichtung des Menschen. Und es gibt immer die Chemie.
Die praktische Auswahl des Berufs
In der achten Klasse mussten wir uns schon für einen Beruf entscheiden, also schon wissen, was wir später einmal arbeiten wollen. Das war Stress, denn ich wusste gar nicht, was ich machen wollte, wie viele andere auch nicht. An der Musikhochschule hätte ich studieren können, es gab ein Vorspiel, doch für meinen Jahrgang waren dort zu wenige Schüler angenommen worden. Was also nun? Zuerst habe ich gedacht: „Ich möchte fliegen! Weit wegfliegen, die Welt kennenlernen.“ So kam ich auf Stewardess. Und dann sind wir zum Bewerbungsgespräch nach Schönefeld gefahren und die Chancen standen gut. Am Ende des hoffnungsvollen Gespräches fragte meine Mutter noch: „Wie ist es denn, wenn wir West-Verwandte haben, gibt es da besondere Auflagen?“ Die Antwort war, dass für mich dann natürlich nur noch Inlandsflüge in Frage kommen würden, also innerhalb der DDR. Es sei denn, ich würde mich von meiner Verwandtschaft, die in der BRD lebt, schriftlich distanzieren. Das kam für mich jedoch nicht in Frage. Rein prinzipiell schon nicht.
Später haben wir in der Bahn einen Lachanfall bekommen, weil wir uns vorstellten, wie ich zwischen Leipzig und Rostock hin und her fliegen würde, obwohl ich doch eigentlich die große weite Welt kennenlernen wollte.
Wer Abitur machen wollte, musste sich in der achten Klasse noch nicht für einen Beruf entscheiden, weil man dann bis zur zwölften weiterlernte, also zwei Jahre länger Zeit hatte. Aber in meiner Klasse waren, wie ich sie damals nannte, die Streber, mit denen ich partout nicht auf eine Schule gehen wollte. Mein Klassenlehrer erklärte mir dann, dass – wenn ich nicht auf diese Schule gehen wolle – ich auch eine Berufsausbildung mit Abitur machen könne. Auch meine Mutter wollte das gern. Als Nachkriegsgeneration hat sie eben sehr praktisch gedacht: wenn eine Frau gleichzeitig arbeitet und Abitur macht, ist das gut. So kam ihr wohl die Idee, mich irgendwie auf den Bau zu schicken. Ihr zuliebe bin ich dann zum Vorstellungsgespräch beim „Gerüstbau Mitte“ gegangen. Aber als ich gefragt wurde, ob ich schwindelfrei sei, verneinte ich es sofort und heftig. Damit war ich aus dieser Nummer ‘raus. Meine Idee war es dann, ein eigenes Restaurant leiten zu wollen. Ich dachte, es wäre toll, weil ich mich dann am wenigsten für nur eine Arbeit entscheiden müsste. Ich könnte dort in meinem Restaurant vielleicht eigene Konzerte geben – also Gitarre spielen, singen, mit den Leuten reden, Lesungen machen. Oder ich könnte die Wände nach meinem Geschmack anmalen. Malen mochte ich auch. Vielleicht könnte ich auch mal kellnern oder so. Und dazu würde ich noch Geld verdienen. Das fand ich optimal und bewarb mich dann im Hotel Stadt Berlin am Alex. Da konnte man die Berufsausbildung mit dem Abitur verbinden. Ich wurde dort angenommen.
Schauspielkunst
Die parallele Geschichte ist die, dass wir in der DDR nicht darüber aufgeklärt wurden, dass es auch künstlerische Berufe gibt. In meiner Parallelklasse war aber der Vater einer Schülerin Grafiker und hat angeregt, dass die Schüler informiert werden. Mein Lehrer wusste, dass ich Gitarre spiele und dachte, dass ich Musik studieren möchte, weshalb er mir ein Informationsblatt mit drei Fächern gegeben hat: Bildende Kunst, Musik und Schauspiel. Aber für die Bildende Kunst, dachte ich, reicht es nicht, auf der Musikschule war ich schon und wollte mit Musik auch irgendwie kein Geld verdienen, da blieb Schauspiel eben übrig. Das kannte ich noch nicht. Ich wusste gar nichts darüber, bekam aber dann eine Einladung aus Babelsberg zum Test und wurde angenommen.
Im Osten waren die Studiengruppen zwar sehr klein, weil ja auch alle einen Arbeitsplatz bekommen mussten. Es gab keinen Überfluss und keine Arbeitslosigkeit in dem Sinne, dass man zu viel ausbildete. Die DDR war klein und alle Stellen waren ausgezählt. Deshalb waren wir dort nur neun Schauspieler. Und als wir während des Studiums Filme drehten, haben wir uns oft selbst um die Geschichten gekümmert und wir haben gesponnen. Und das war das Tolle: Wir waren Studenten in allen Fachbereichen – Filmwissenschaft, Produktion, Kamera, Regie, Schauspiel – die man zum Filmedrehen braucht. Dadurch waren die Kontakte ganz anders. Das war keine reine Schauspielerinsel! Wir hatten damals eine riesige, wie wir sie nannten, „Bratpfanne“ – einen Studenten Club, wo wir regelmäßig saßen und gesprochen und getrunken und geraucht haben oder eben auch nicht, aber auf jeden Fall haben wir permanent irgendwas gesponnen und uns über Ideen ausgetauscht. Da sind viele Kontakte und Projekte entstanden. Und so haben wir kurze Filme gedreht, die wir dann vorspielten, und uns auch angeguckt, was die anderen da entwickelten.
Ich habe mit meinem Freund André Hennicke, der in meinem Studienjahr studierte, in unseren Filmen immer ein Paar gespielt. Für eine Geschichte reichen ja ein Mann und eine Frau, dann hatten wir in der Regie den Studenten Andreas Höntsch, Tony Loeser war der Kameramann und Christian Stier der Produzent. Also waren wir quasi eine Filmgesellschaft. Und es war ein Dreamteam, wir haben wirklich tolle Sachen gemacht und konnten einander auch sagen, was wir ausprobieren wollten. Wir haben von der Schauspielleitung dafür regelmäßig Tadel bekommen, weil wir Schauspieler nicht zu früh Filme machen durften, um unsere Manierismen nicht zu kultivieren.
Marina
Dann kam ein nächstes Studienjahr – die Filmhochschule nahm nur alle zwei Jahre neue Studenten auf – und im neuen Jahrgang war Dror Zahavi. Er drehte einen Film, in dem ich auch mitspielte, teils in Babelsberg und teils in Moskau. Und als er im Rahmen eines Hochschulaustausches nach Moskau gegangen ist, bekam er dort Dolmetscher. Die Dolmetscher waren natürlich Studenten, die gut Deutsch konnten. Darunter war Marina, die sich um die deutsche Filmcrew gekümmert hat. Ich war in Moskau zwar nicht dabei, aber sie kamen dann nach Babelsberg zu einem Studentenfilmfest und da lernten wir uns in der „Bratpfanne“ kennen.
Das weiß ich noch, davon habe ich sehr lebendige Bilder im Kopf: eine sehr lustige, emotionale, überbordende Frau, wie ich sie sonst nicht kannte. Es war von Anfang an sehr herzlich zwischen uns, wobei ich gar nicht mehr weiß, wie wir damals weiter kommuniziert haben. Wahrscheinlich schrieben wir einander und telefonierten, aber ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Auf jeden Fall besuchten wir uns, aber sie war öfter hier, weil sie deutsche Freunde hatte und Berlin so sehr liebt. In der DDR-Zeit war ich auch bei ihr in Moskau zu Besuch, da lernte ich die Familie kennen. Sie hat mir eine Einladung geschickt und dann bin ich hingeflogen.
Wir haben nie den Kontakt abgebrochen und ich habe viel von ihr gelernt. Als ich einmal mit dem Vater eines Freundes, der in der Botschaft in Moskau arbeitete, auf dem Arbat verabredet war, wollte Marina mich unbedingt begleiten. „Weil es dort nicht ungefährlich für Frauen ist“, sagte sie. Am liebsten wollte Marina mir diesen Ort gar nicht zeigen, weil es dort Schmuddelecken gibt. Und da bin ich darauf aufmerksam geworden, wie unterschiedlich wir waren. Mich interessiert alles und bei ihr gibt es eine Auswahl von Orten, die man nicht unbedingt sehen muss. Das war neu für mich. Und mir gefiel immer ihre Haltung zu Dingen, also dass sie Grenzen setzen und Sachen ablehnen konnte. Zudem gab es immer eine Art siebten Sinn füreinander, der uns verbindet. Dabei war ich viel sparsamer mit meinen Worten und dem Aussprechen meiner Gefühle. Von Marina habe ich viel gelernt; dass es eben einen emotionalen Vorschuss gibt, den man einander geben kann. Und das habe ich später in dem Film „Godard über Godard“ wiedergefunden, der Liebe beschrieb und sagte: „Liebe ist ein Versprechen, das ich gebe und dann einlösen muss.“ Ich habe während dieser Jahre sehr viel gelernt.
Interview: Natalia Konradova
Das Interview mit Marina Zurzumia findet sich hier.
Unerwünschte Wege 2023