Im Jahr 1988 schloss ich mein Studium an der Universität Nowosibirsk ab und zog nach Tallinn. In Estland lebten meine Vorfahren. Damals hatte die “singende Revolution” in Estland bereits begonnen, wir waren dabei, ein nationales Bewusstsein zu entwickeln, in Erwartung großer Veränderungen in der Gesellschaft, die dann auch bald eintraten. 

Die Finnen kamen oft zu uns zu Besuch. Eines Tages kamen meine finnischen Freunde nach Tallinn, und wir reisten mit dem Zug durch das Baltikum. Doch wie sich herausstellte, durften sich finnische Bürger nicht weiter als 30 km von Tallinn entfernen. Als wir in Riga ankamen, wurden wir von der Polizei angehalten, und wir mussten uns spontan ein paar Geschichten ausdenken, dass meine Finnen Gymnastiktrainer und wir auf einer offiziellen Reise waren. 

Im Juli 1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, fuhr ich nach Riga und besuchte einen Freund, der im Studentenwohnheim der Universität Lettlands am Aspazija-Boulevard wohnte. In der Küche dieses Wohnheims lernte ich unter ganz häuslichen Bedingungen Carla kennen. Sie war 27 Jahre alt und Chemie-Doktorandin aus Leipzig – es gab eine Gruppe von Austauschstudenten aus Leipzig. 

Carla sprach Russisch. Wir haben uns gegenseitig kennengelernt. Diese Gruppe sollte nach Tallinn weiterreisen, und ich schlug ihr vor, mich in Tallinn zu treffen, wo wir uns fünf Tage später wiedersahen. Ich zeigte ihr die Stadt und die Umgebung. Carla hatte eine Kamera namens Praktika, eine bekannte ostdeutsche Marke. Sie machte eine Menge Fotos und schien ein sehr cooles Mädchen zu sein. Wir haben eine Affäre begonnen. Es dauerte den ganzen Sommer, den sie in Tallinn verbrachte.

Als wir uns in Riga trafen, hatte ich den Eindruck, dass wir gleichgesinnt sind und auf der gleichen Wellenlänge liegen. Alles drehte sich um uns, und es schien, als sollte sich auch alles um sie drehen, um die Ostdeutschen. So war es für mich überraschend, etwas ganz anderes zu entdecken, indem ich direkt mit Menschen aus einer ganz anderen Welt, nämlich der DDR, sprach.

Diese ganze Gruppe deutscher Studenten, Carla eingeschlossen, war sofort als Ausländer zu erkennen, vor allem an ihrer Kleidung. Aber sie waren alle irgendwie innerlich zurückhaltend und – ganz im Sinne meiner Klischees – super-pedantisch. Sie wichen nicht einen Schritt nach links oder rechts vom geplanten Programm der Reise nach Riga und Tallinn ab – nun ja, abgesehen von der Tatsache, dass wir eine Affäre hatten, was natürlich nicht passieren sollte.

Carla war sehr überrascht, dass wir alle finnisches Fernsehen geguckt haben. Ich fragte sie, ob sie das West-Fernsehen schaue, das man bei ihnen empfangen konnte. Sie antwortete, dass dies möglich sei, sie es aber nicht schaue. Sie war weder eine militante Kommunistin noch eine überzeugte Anhängerin der SED. Sie hat sich lediglich an die Regeln gehalten. Zum einen sagte man “Du darfst” und zum anderen “Du darfst nicht”, und so lebte sie im Rahmen dieses begrenzten Raums. Ich fragte sie, ob sie nicht in den Westen fahren möchte. Nein, sagte sie, warum in den Westen? Bei uns wird der Sozialismus aufgebaut, bei uns ist alles gut. … Nicht von wegen “unsere Sache ist die richtige, wir werden siegen”, sondern “bei uns ist es ruhig, wir machen das, was wir dürfen und uns geht’s gut.”

Aber ich hatte das Gefühl, dass wir auf derselben Seite stehen müssten, also hielt ich Motivationsreden nach dem Motto “Wir warten auf einen Wandel”. Und Carla antwortete weiterhin: “Uns geht es gut. Wir können in die Sowjetunion oder ans Meer nach Bulgarien fahren”. Es entstand eine Dissonanz. Es war erstaunlich.

Und das war nicht der einzige Grund, sich zu wundern. Denn trotz all ihrer inneren Strenge und Zurückhaltung, bei allem, was ihre Einstellung zu ihrem Körper betraf, war Carla total entspannt. Vollkommen. Sie lief nackt durch das Haus und schämte sich überhaupt nicht für ihren Körper. Sie hat sich die Achseln nicht rasiert, was mich auch überrascht hat. Aber das war eine private Sache, und da ich die deutsche Freikörperkultur damals nicht kannte, war ich unglaublich überrascht, dass man als fast ideologischer Anhänger der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands immer noch nackt herumlaufen konnte.

Interview: Mikhail Kaluzhskii

Unerwünschte Wege 2023