Nach Armenien zum Studieren

Ich habe 1970 die Schule beendet und das letzte Schuljahr in einem Institut zur Vorbereitung auf ein Auslandsstudium verbracht. Wir haben ein Jahr lang in Halle gelernt, im zentralen Institut bei der Martin-Luther-Universität. Es hieß ABF, „Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“, existierte nur im Osten Deutschlands und wurde gegründet, um Arbeiter und Bauern auf die Universität vorzubereiten. Es ging darum, dass wir sowohl im sprachlichen als auch politischen Sinne vorbereitet wurden. Wir nannten das „Rotlicht-Bestrahlung“.

Mir war damals schon klar, welchen Studiengang ich wähle – Mathematik, und dass ich zum Studieren in die Sowjetunion gehe. Aber wo ich genau hinkomme, wurde oben entschieden. Formal durften wir zwei Wunschstädte eintragen. Die erste war Odessa. Wir hatten eine lustige Gruppe aus Physikern und Mathematikern; die Physiker haben entschieden, Odessa aufzuschreiben und wir Mathematiker schrieben aus Solidarität auch an erster Stelle Odessa auf. Mein Zweitwunsch war Jerewan, wo ich auch hinkam. Ich habe Jerewan zufällig gewählt. Mein Zahnarzt hat gesagt: „Herr Burchardt, gehen Sie nach Jerewan. Da ist es warm und angenehm. Meine Frau und ich waren da schon zwei Mal im Urlaub.“ Er hat das so gesagt, dass ich dann dahinfahren wollte. Und ich habe es nicht bereut, weil Armenien auch für sich ein interessantes Land ist. Ich habe bis heute Kontakt mit meinen Freunden dort. Vor kurzem war ich sechs Tage in Armenien und wohnte bei dem Ältesten meiner Gruppe, er ist jetzt Professor. 

Rüdiger Burchardt, 2022. Foto: Elena Kashirskaya

Mein Vater war vier Jahre lang in Gefangenschaft an der Wolga. Er hat mir gleich gesagt: „Wir werden dich nicht besuchen. Ich war da schon.“ Ich sagte: „Aber Papa, das ist 30 Jahre her, die Lage ist heute anders.“ Jedoch habe ich ihn mit der Zeit besser verstanden. Er war nicht in Hitlers Partei, er ist als junger Mann in diesen Krieg gezogen, durch die Mobilisierung. Er kam bis Odessa und auf dem Weg zurück wurde er in Böhmen gefangen genommen. In Gefangenschaft war er in Sysran, wo Stein abgebaut wurde. Das ist sehr schwere Arbeit und er hat sehr wenig darüber geredet. Er war einfach nur froh, dass er überlebt hat und nahm sich jedes Jahr für den Tag Urlaub, an dem er aus der Gefangenschaft entlassen wurde – das war sein Feiertag.  In der Kolchose wusste man im Voraus, dass Martin an diesem Tag nicht arbeitet. 

Auf jeden Fall war das kein Hindernis dafür, dass mich Freunde aus Armenien nach dem Studium besuchten und meine Eltern sie immer sehr herzlich aufnahmen. 1980 besuchte mich mein bester Freund Mischa aus Aserbaidschan mit seiner ersten Frau Natascha. Natascha ging mit meinem Vater aufs Feld und sagte, als sie zurückkam: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Vater sehr gut Russisch spricht?“ Ich sagte: „Ich wusste es selbst nicht.“

Als wir nach Jerewan kamen, wussten wir faktisch gar nichts über Armenien. Ich wusste, dass man dort außer Russisch noch eine andere Sprache spricht, die ein anderes Alphabet hat. Aber wie es wirklich ist, muss man am eigenen Körper erfahren. Erst im dritten Jahr hat man uns an der Fakultät einen Armenisch- Sprachkurs angeboten und dann habe ich gesehen, dass im Supermarkt neben dem russischen Wort „молоко“ („moloko“ – Milch) das armenische Wort „kat“ geschrieben war.

Verbote und wie man sie umgeht

Ich hatte vier Tanten väterlicherseits, und zwei von ihnen sind in Westdeutschland gelandet. Auch meine Großmutter mütterlicherseits lebte in Westdeutschland. Bevor wir in die UdSSR gingen, mussten wir eine Liste unserer Verwandten im Westen erstellen und ein Dokument unterschreiben, in dem wir erklärten, dass wir keinen Kontakt zu ihnen halten würden. Aber was meine Großmutter betraf, war ich damit nicht einverstanden. Und wie Sie sehen, haben sie sich darauf eingelassen – ich konnte meiner Großmutter direkt aus Armenien schreiben, während ich den Rest meiner Verwandten auf eine spezielle Liste setzen musste und sie meine Nachrichten über meine Eltern erhalten sollten. Dabei war ich mir sicher, dass diese Briefe ohnehin kontrolliert wurden, und dachte über jedes Wort nach, um nichts Kompromittierendes zu schreiben. Andererseits wollte ich Mama und Papa auch über nichts Schlechtes schreiben.

Eigentlich gab es für internationale Studenten einen Umkreis von – ich glaube – 30 Kilometern, über den man nicht hinausfahren durfte. Aber da der Ararat, der höchste Berg der Türkei, 30 km von Jerewan entfernt liegt, durften wir an den Sewansee fahren, der 70 km von Jerewan entfernt ist. 

Einmal wollte ich mit meinem Freund Mischa über die Novemberfeiertage zu ihm nach Sumgait in Aserbaidschan fahren. Das war 1974. Wir fuhren mit dem Bus dorthin, denn das war die einzige Möglichkeit, bei der die Pässe nicht kontrolliert wurden. Obwohl es Züge und Flugzeuge zwischen Jerewan und Baku gab, fuhren wir mit dem Bus: zehn Stunden Jerewan-Baku und dann noch 45 Minuten bis Sumgait. Und nichts passierte.

Andere Städte in Armenien waren schwieriger zu erreichen. In den Maifeiertagen 1975 hatten wir fünf Tage hintereinander frei. Am 1. Mai gingen wir als gehorsame Studenten des Bruderstaates zur Demonstration, und gleich danach flohen wir zum Wohnheim, schnappten unsere Taschen und Pässe und fuhren zum so genannten Südflughafen. Dort bestiegen wir das letzte Flugzeug in die Stadt Kapan im Süden Armeniens, nicht weit von der iranischen Grenze entfernt. Wir hatten einen ruhigen Flug. Im Hotel zeigten wir unsere Pässe vor, und ich erinnere mich daran, wie die Frau sie verkehrt herum hielt – es muss das erste Mal gewesen sein, dass sie lateinische Buchstaben gesehen hat. Wir bekamen unsere Hotelzimmer und wollten uns am Morgen den Busfahrplan ansehen, um weiterzufahren, aber da bemerkten wir, dass uns zwei Beamte in Zivilkleidung beobachteten. Sie kamen auf uns zu und sagten ohne jegliche Begrüßung: „Ihr seid Studenten aus der DDR und ihr dürft nicht hier sein”. Dann gingen sie weg, und nach etwa 20 Minuten klopften sie wieder an die Tür: „Jerewan sagt, dass ihr zurückgehen müsst.“ Sie setzten uns in einen Jeep und es vergingen nicht einmal 24 Stunden, da waren wir wieder in Jerewan. Dabei sind auch andere Studenten aus der DDR dorthin gefahren, nur nicht mit dem Flugzeug, sondern mit der Eisenbahn, die die ganze Zeit an der Grenze zum Iran entlangfährt. Und da waren natürlich auch Soldaten unterwegs, aber sie haben einfach die Tür zum Abteil nicht aufgemacht und niemand hat sie aufgehalten.

Freunde aus der Uni

Meinen besten Freund Hazhak nennen alle Mischa. Seine Mutter war eine sowjetische Deutsche, die er im Prinzip nicht kannte, und sein Vater Armenier. Irgendwie hat es sich so ergeben, dass er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter, einer Armenierin aus Karabach, aufwuchs. Eine sehr gute Frau, sie ist 91 und lebt immer noch in der Nähe von Jerewan. Ich habe Mischa im vierten Studienjahr in unser Wohnheim gebracht, weil er am Stadtrand an einem sehr schlechten Ort wohnte. Er ist in Sumgait in Aserbaidschan geboren. Wir haben uns während des Studiums kennengelernt und er war mir sofort sympathisch. Er kommt aus einer einfachen Familie, seine Mutter war Verkäuferin und sein Vater Schmied in einer Fabrik. Er interessierte sich für Musik, spielte wie ich Akkordeon. Und so sind wir bis heute befreundet. 

In Sumgait gab es sehr viele Leute, die aus Russland und aus Armenien kamen, und die Hauptsprache auf der Straße war Russisch. Mischa hatte viele Freunde aus der Schulzeit, die danach auch in Jerewan studierten, und das war für mich ein wichtiger Grund, Russisch zu lernen – weil Mischas Freunde alle untereinander Russisch sprachen. Ihre Eltern waren bestrebt, ihre Kinder auf eine russische Schule zu schicken, weil sie verstanden, dass sie in einem kleinen Land leben und das Kind viel mehr Chancen hat, wenn es die russische Sprache gut beherrscht. Damals liefen eine Menge Kinofilme auf Russisch, Bücher waren auf Russisch und es gab keine Möglichkeit, alles zu übersetzen. 

Studenten aus der DDR traten immer bei Universitätsveranstaltungen auf – sie sangen deutsche, russische und armenische Lieder. Während eines Auftritts haben wir hinter der Bühne einen Armenier kennengelernt, der Klavier spielte. Seine Familie wurde zu meiner zweiten Familie. Araik starb im Jahr 2012. Am Abend des 30. April erfuhr ich, dass er krank ist. Ich kaufte ein Ticket für den 10. Mai und habe es noch geschafft, ihn zu sehen – wir haben uns verabschiedet. Er war schon gelähmt, aber machte wie immer viele Witze. 

Rüdiger Burchardt und seine Freunde bei einem Ausflug zur Burg Amberd an den Hängen des Berges Aragats, am 25. Jahrestag der Gründung der DDR (1974).
Foto: Archiv von R. Burkhardt

Arutjun (in Kiew nannte man ihn Artjuscha) ist im dritten Jahr zum Studieren zu uns gekommen. Er sagte, dass es bei uns schwerer sei als in Kiew und blieb für drei Jahre in Jerewan. Später hat er eine Frau geheiratet, die halb Litauerin und halb Russin war. Ich wurde sogar zur Hochzeit in Witebsk/Belarus eingeladen, aber das war in den Winterferien, und wir konnten nur zwei Mal im Jahr nach Hause fahren. Dabei wurde das Ticket einmal vom Staat finanziert und für die andere Fahrt mussten wir selbst sparen. Normalerweise habe ich die Hinfahrt selbst gezahlt und die Rückfahrt bezahlte mir mein Opa. Im Endeffekt habe ich mich gegen die Fahrt nach Witebsk entschieden, was ich bis heute noch bereue. 

Rüdiger Burchardt am Sewansee mit der Familie Sarkisian und ihren Freunden. Foto: Archive von R. Burchardt

Studium in der UdSSR – ein sozialer Aufstieg

Wir hatten in der Universität „Nairi-2“-Computer und haben mit diesem Gerät Programmieren gelernt, unter anderem mit der „Algol“-Sprache. Mir hat das gefallen, weshalb ich, als ich nach dem Studium zurückkam, sofort einverstanden war, in dieser Sphäre zu arbeiten. In den 1970er Jahren entwickelte sich die elektronische Verarbeitung von Daten in allen Ländern einschließlich der DDR. Und als wir zurückkehrten, war das nicht die schlechteste Option. Etwas entfernt von Mathe, aber nicht zu sehr. Danach habe ich bemerkt, dass Mathematiker die besten Arbeiter in diesem Bereich sind. Es ist mit logischem Denken verbunden, was uns, sozusagen, eingetrichtert wurde. 

Rüdiger Burchardt mit seinen Freunden im Jahr 1976,
während seiner 25. Geburtstagsfeier. Foto: Archive von R. Burchardt

Ein paar Jahre später hatte die Gruppe, die ich leitete, ein „Robotron“-Gerät, das in Dresden hergestellt wurde und auch die „Algol“-Sprache kannte. Einmal haben unsere Kollegen mithilfe dieses Geräts eine Ausbreitung von Funkwellen ermittelt und gingen zu einer internationalen Konferenz nach Genf. Da haben die Leute aus Westdeutschland große Augen gemacht vor Verwunderung. Ich erinnere mich, dass das Gerät sogar nachts arbeitete, um unsere Algorithmen zu ermitteln, aber sie waren richtig und die Resultate waren überzeugend.

Schon 1979 habe ich den Posten als Leiter des Sektors bekommen. Und als Absolvent einer sowjetischen Universität kam ich in die sogenannte Nomenklaturstufe II – das war die zweithöchste Stufe im System des Personalwesens der DDR. Deshalb habe ich zweimal im Monat in der Nähe von Berlin an Kursen zur Qualifikation für Führungspositionen teilgenommen. Also war das ein sozialer Aufstieg, auch im politischen Sinne.

In Jerewan habe ich ein Schreiben über den Eintritt in die Partei verfasst, aber es stellte sich ‘raus, dass unsere Physiker gegen mich waren, und ein Freund hat mir geraten, bis zum Abschluss zu warten. Er sagte, dass man mich nach dem Studium mit offenen Armen in die Partei aufnehmen würde. 1978 wurde ich Parteimitglied. Wir wussten damals vieles nicht, was nach dem politischen Wandel bekannt wurde. Jedoch wurden aus uns in Jerewan eher kritisch denkende Kommunisten. Der Zar war weit weg, in Moskau, und die Botschaft konnte nur ein-, zweimal im Jahr jemanden zu uns schicken, aber sie konnten uns nicht kontrollieren. Und in der Universität gab es Dozenten für Sozialwissenschaften, die liberal waren und Diskussionen erlaubten. Ich würde nicht sagen, dass das Dissidenten waren. Eine offenere Denkweise war dort einfach üblicher. Und später hat uns das geholfen – man muss nicht allem glauben.

Rüdiger Burchardt: Ausschnitte aus dem Interview (auf Russisch)

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023