Herkunft

Ich habe als Kind gehört, dass meine Großmutter in Thüringen 1945 von Sowjetsoldaten… Ob sie vergewaltigt worden ist, wird man nie ‘rausbekommen. Sie meint nein, aber alle ihre Vorderzähne waren aus Gold. Die sowjetischen Soldaten haben ihr die Zähne eingeschlagen im Kampf, sie zu vergewaltigen. Und sie sagt, sie ist wenigstens noch davongekommen, ohne Zähne. Aber solche Erlebnisse gab es eben.

Meine Mutter ist mit der Familie ’45 aus Schlesien geflohen. Der eine Großvater war noch bei der Verteidigung Breslaus; Berlin war schon gefallen, da haben die da immer noch gekämpft. Er war vorher in der Sowjetunion, in Jugoslawien und in Griechenland. Der andere Großvater ist in der Ukraine gefallen, bei Charkiw. Dieser ganze historische Ballast war in allen Formen präsent und hat mich auch schon seit meiner Kindheit erreicht. Das waren andere Geschichten als die, welche man in der Schule gehört hat.

Mein Vater war als Botaniker zum wissenschaftlichen Austausch mehrfach jeweils ein halbes Jahr in Moskau. Der kann perfekt Russisch und hat dort geforscht. Er wäre niemals in die SED eingetreten und war der DDR gegenüber eher distanziert. Hier ist so eine Postkarte an ihn – gnadenlose Propaganda: „Ruhm der Sowjetarmee, die die Welt beschützt!“ Der handschriftliche Text: „Lieber Dr. Conrad! Empfangen Sie unsere herzlichen Wünsche für Schaffenserfolge und eine gedeihliche Entwicklung unserer Zusammenarbeit. Das Kollektiv des Laboratoriums für Nukleinsäuren.“ Was mögen das für Kollegen gewesen sein, die so eine Karte schickten? Es kamen auch Karten mit Blumenmotiven oder Hexe Baba Jaga oder was weiß ich. Er sagt, er hat aus allen Sowjetrepubliken sehr verschiedene Leute kennengelernt. Ganz bitterböse, intrigante; aber viele waren eben auch total nett, interessiert an Leuten aus dem Ausland und einige waren latente Dissidenten. Es könnte natürlich auch sein, dass gerade so jemand dann zur Tarnung solch eine Propaganda-Karte geschickt hat.

Briefwechsel

Wir hatten dann Brieffreunde; aus Interesse und aus Neugier, aber man war als Kind schon so konditioniert, dass man im Zweifelsfall lieber mitgemacht hat. Ich habe vergessen, wo mein Brieffreund in der Sowjetunion war, in welcher Sowjetrepublik. Wir haben uns beide bemüht und ein paar Monate lang vielleicht zehn Briefe hin- und hergeschickt. Und dann hat sich das so weggeläppert. Ich glaube, beide Seiten haben gemerkt: ohne wirklichen gemeinsamen Lebenshorizont und Alltagserfahrungen hat man sich auch wenig zu sagen. Ich weiß nicht mehr, ob mein Brieffreund Deutsch geschrieben hat und ich Russisch oder wir beide Russisch. Auf jeden Fall war mein Russisch auch nie so besonders, so dass es immer ein bisschen mühselig war. Das war eine der erste Begegnungen mit der Sowjetunion.

Die allererste Begegnung war ja im Kindergartenalter, und das war bei mir zu viel des Guten. Ich habe sehr früh schon gesagt: „Nicht schon wieder Sowjetunion und die Brüder und die Freunde, lasst mich in Ruhe damit.“

Sowjetische Kasernen

Schon als Kind bin ich an Sowjetkasernen vorbeigekommen, egal ob in Thüringen oder Rostock oder im Bezirk Neubrandenburg. Da wurde recht schnell klar, das ist quasi Dritte Welt. Man hat immer gesagt, die werden wahrscheinlich ganz moderne Waffen haben und technisch fit sein, aber alles, was man gesehen hat, war Müll und Zeitungspapier in den Fenstern und so ein Hochsicherheitstrakt, wo aber selbst die Mauern eingestürzt waren, weil es scheinbar mit dem Unterhalt nicht funktionierte. Da war immer die Diskrepanz, dass ich so das Gefühl hatte, wie geht das zusammen?

Und dann war ich ab 1981 anderthalb Jahre lang bei der Armee, bis Frühjahr ’83. Da war ich in Schwerin und wir hatten so eine Pateneinheit von der Sowjetarmee in Wismar, und die haben wir einmal – sonst hat man davon nichts mitgekriegt – besucht, und das war ganz interessant. Da waren unsere Offiziere von den sowjetischen Offizieren in deren Kaserne eingeladen. Die Offiziere fuhren im Jeep vorne weg. Wir mussten – zehn, 15 Soldaten – hinten rauf auf den LKW, damit sie nicht so alleine dastehen, damit sie eine Mannschaft mitbringen, dass das nach was aussieht. Sie wollten zeigen: Wir haben Gefolge. Und dann waren wir da. Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt noch einen Appell gab. Ich glaube nicht einmal. Und dann sind die saufen gegangen mit den sowjetischen Kollegen, und wir waren völlig vergessen und auf uns allein gestellt, was das Beste war. Man konnte da in dieser Kaserne ‘rumlaufen und sich alles angucken und das war ein totaler Schock für mich. Weil ich aus dem Innenleben einer NVA-Kaserne kam und wusste, wie da der Standard war. Und das war nun auch nicht luxuriös. Bei der NVA hatten wir so eine Soldatenstube mit drei Doppelstockbetten, sechs Leute mit ihren Spinden. Bei denen waren mehr als das Doppelte in so einem Raum. Die hatten meistens Schlafsäle, die waren vielleicht so 40, 50 Quadratmeter groß. Und da stand dann wirklich Bett an Bett. Das waren keine Doppelstockbetten und deutlich schmaler als unsere. Dazwischen war ein winziger Nachtschrank, nur wenige Zentimeter breit. Zwei Soldaten mussten sich so einen Nachtschrank teilen, wo ihr kompletter privater Besitz drin Platz finden musste. Es gab Kopfkissen und Bettlaken, aber keine Bettdecken, die mussten ihren Mantel nehmen zum Zudecken. Und in den Klos waren die Türen ausgehängt, so Kommune-Eins-mäßig. Es gab keinen Clubraum oder irgendwas wie bei der NVA, da gab’s so einen Fernsehraum, wo man sich mit ‘nem Buch zurückziehen konnte. Es gab nur einen Propagandaraum, komplett mit roten Fahnen ausgekleidet, Leninbüste, goldene Buchstaben, Frieden und Sowjetmacht, und das war die einzige Erbauung. Die Küche war gerade explodiert und ausgebrannt. Essen gab es aus der Gulaschkanone in der Garage und die normalen Soldaten sahen wirklich sehr ausgemergelt und fertig aus. Es gab keine Gespräche, irgendwie waren die so ein bisschen verhuscht und es war ein sehr trüber, trauriger Eindruck. Man kam richtig aus dem Ausland zurück, als man diese Kaserne verlassen hatte.

Anfang der 1990er Jahre habe ich dann systematisch viele solcher Kasernen fotografiert. Ich bin ja Bauhistoriker neben meinem Fotografenberuf. Meine Diplomarbeit war eine Militäranlage aus der Nazizeit bei Jüterbog und generell wie man mit dieser Architektur aus dieser Zeit umgeht. Da hatte ich immer wieder mit diesen völlig absurden sowjetischen Umnutzungen zu tun: Permanent mussten Fenster zugemauert werden und Treppenhäuser führten ins Nichts. Da wurde mitten im Gebäude zugemauert. Die obere Etage war von einer anderen Einheit, und die durfte nicht wissen, was die andere macht. Dafür wurde von hinten eine Tür ‘reingebrochen, aber auf so technisch hilflose Art und brutal. Das war der Eindruck, den ich speziell von der Sowjetarmee hatte.

So war mein Background schon von Anfang an durchwachsen. Deswegen war meine Erwartung damals nicht so hoch. Die Sowjetunion war für mich dermaßen fremd durch diese permanente, übertriebene Propaganda. Bei uns hieß es: „Die Sowjetunion, das sind unsere Freunde.“ Da wurde dann immer knapp erwidert: „Nee, Brüder! Freunde kann man sich aussuchen.“ Das war so die Haltung: „Lasst uns in Ruhe!“

Im Hintergrund die Stasi

Ich habe eine dicke Stasiakte wegen Fotografierens und wir haben Schmalfilme gedreht damals und alles mögliche veranstaltet, ohne uns so wichtig zu finden, wie die Stasi uns wichtig fand. Ich wollte einfach meine Heimatstadt, in der ich groß geworden bin, für mich selber festhalten. Ende der 70er Jahre ist das alles durch Flächenabrisse zerstört worden. Und die Fotos sehen natürlich auch richtig schön trostlos aus. Das war gar nicht mein Ansinnen, obwohl wir uns gegen die Abrisse gewehrt haben. Wir haben an Honecker geschrieben, aber keine Antwort bekommen. Ich hatte dann über die evangelische Kirche viele Kontakte auch nach Westdeutschland. Viele haben uns besucht und denen habe ich dann auch immer mal solche Bilder gezeigt. Da war ich dann im Fadenkreuz der Stasi. Zum Glück wusste ich das nicht. Im Nachhinein konnte ich in der Akte nachlesen, dass in meinem Bekanntenkreis Spitzel waren.

Ich habe keinen Studienplatz gekriegt, eben wegen dieser Stasi-Sachen. Heute weiß ich nicht, was das eigentlich sollte. Wenn sie mich nun disziplinieren wollten, wäre es ja klüger gewesen, zu sagen: „Du bist nicht brav genug, deswegen darfst du nicht studieren, werde brav!“ oder so. Ich weiß nicht, ob die einfach Angst hatten, dass jemand wie ich überhaupt irgendwas studiert?

Ich hab dann ’87 meinen Ausreiseantrag gestellt, weil ich keinen Fuß auf den Boden gekriegt habe hier. Ich war immer recht staatskritisch, aber in gewisser Weise ein gutwilliger Staatsbürger. War aus meiner Sicht blöd gelaufen. Nur dass das bei mir gar nichts mehr wurde mit der Ausreise, weil die Mauer dann aufging.

Mit diesem ganzen Background konnte ich auch nicht ohne Weiteres reisen. Man musste das ja immer beantragen. Nur nach Polen und in die Tschechoslowakei durfte man einfach so mit dem Ausweis ‘rüber. Aber nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien und in die Sowjetunion musste man – wir haben immer gesagt – ein Visum beantragen. Ich habe dann später gelesen, es gab visafreien Reiseverkehr unter den sozialistischen Ländern, aber die DDR selber hat sich eine sogenannte Reiseanlage gegeben, dass man überhaupt ‘raus durfte, und die haben sie nicht immer erteilt. Ein paarmal ist mir das auch nach Bulgarien und nach Ungarn verwehrt worden.

Kein Transitvisum durch die Sowjetunion

Ich hatte sonst so weitgehend alles durch, was man als DDR-Bürger bereisen konnte, wenn man Vietnam und Kuba mal ausnimmt, wo man ja doch keine wirkliche Chance hatte hinzukommen.

Und dann hatte ich von Freunden gehört, die zu diesen „Unerkannt durch Freundesland“-Kreisen gehörten, dass man es ja auch in die Sowjetunion schaffen kann. Das Interessante bei diesen Leuten war, dass die dieses Transitvisum ausgenutzt haben, was – wie ich erst später erfahren habe – von 1968 stammt, als die Sowjetunion mit den Warschauer Vertragspartnern die Dubček-Regierung platt gemacht hat und einmarschiert ist. Und dann hat die DDR-Staatsführung in Moskau angefragt: „Das ist ja blöd nach dem Mauerbau jetzt. Unsere DDR-Bürger sind sowieso schon angepisst, jetzt können sie nicht mal mehr in die Tschechoslowakei und damit auch nicht nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien.“ Und dann wurde gesagt: „Na okay, alles klar, dann machen wir eine Sonderregelung Transit-Visum über Weißrussland und die Ukraine nach Rumänien, dann können die ans Schwarze Meer.“ Aber die Sowjetunion wollte nicht, dass viele Touristen zu ihnen kommen. Ja, und das hat man dann, als die Tschechoslowakei wieder offen war für DDR-Reisende, vergessen wieder zurückzunehmen.

Ich hatte auch davon gehört und und dann wurde mir im Volkspolizei-Kreisamt Greifswald gesagt: „Was wollen sie denn da? Und wieso fahren sie denn nicht wie immer über die Tschechoslowakei? Warum wollen sie jetzt über die Sowjetunion?“ Mir fiel nichts anderes ein als „Ist halt mal was anderes“ zu sagen. „Nee, das lassen wir mal! Ungarn erlauben wir ihnen, stellen ‘se ‘nen neuen Antrag für Ungarn, Rumänien. Aber Sowjetunion – sie schon mal nicht.“

Und von anderen Leuten damals weiß ich jetzt im Nachhinein, die haben sich extra einen anderen Wohnsitz gesucht, sind nach Leipzig gezogen, weil man wusste, da sind die etwas großzügiger bei den Behörden. Da war ich aber nicht informiert genug.

Mit Jugendtourist in die Sowjetunion

Ein oder zwei Jahre später, das war dann 1985, da trug es sich zu, dass mein Freund Thomas… Dessen Freundin arbeitete im Kreiskulturkabinett. Später haben wir ‘rausgekriegt, sie war der schlimmste Stasispitzel, hat vier Leute ins Gefängnis gebracht. Damals war sie aber ungewollt der Türöffner für mich zur Sowjetunion. Denn sie hat nicht nur Westreisen machen dürfen, sondern damals eben auch so eine Jugendtourist-Reise. Und dann war sie plötzlich krank. Aber die Plätze waren schon bestellt und sie hatte ihren Freund Thomas Frick als ihren Begleiter angemeldet. Da war die Stasi nicht involviert. Das Jungendtourist-Reisebüro hatte die Plätze gebucht und fragte an: „Wollen sie jetzt beide zurücktreten?“ Und er sagte: „Nö, ich würde trotzdem gerne fahren.“ Und dann wurde er gefragt: „Haben sie denn jemand anderes, der den Platz nehmen könnte?“ „Ja, mein Freund Robert kommt da bestimmt gerne mit.“ Und dann waren wir in dieser eigentlich für brave Bürger gedachten Gruppe, mit Hotel und Flieger und Vollpension: Moskau, Tiflis, Jerewan, Baku, zwei Wochen lang.

Robert Conrad 1985 auf dem Roten Platz in Moskau
Foto: T. Frick

Am ersten Tag haben wir gemerkt, das ist unbefriedigend und haben den Reiseleiter beschwindelt: „Wir sind nicht das erste Mal in der Sowjetunion und in Moskau, wir kennen das alles, das normale Programm wollen wir nicht mitmachen. Wir verschwinden nach dem Frühstück und kommen zum Abendbrot oder zum Übernachten wieder zurück.“ Und das hat der jugendliche Reiseleiter auch mitgemacht. Wir haben dann Tagestouren gemacht; in Armenien per Anhalter an die türkische Grenze, wollten den Ararat sehen, was nicht ging, weil es total neblig war. Wir standen an der Grenze und sahen die Hand vor Augen kaum.

Irgendwann waren die zwei Wochen um. Da habe ich, ohne das vorher geplant zu haben, gesagt: „Nun haben sie mich einmal aus Versehen ‘reingelassen. Wird nicht wieder vorkommen. Also nutze ich das lieber, stelle mich an die Straße und verschwinde.“ Ich hatte gar keinen Plan, bin morgens in aller Frühe abgehauen und spät abends war ich schon wieder zurück; weil ich von der Polizei aufgegriffen wurde und das dann doch unterschätzt hatte. Der Vorteil des Nachteils: ich war rechtzeitig mit Verhör und allem drum und dran wieder bei der Gruppe zurück, so dass ich sogar noch den regulären Rückflug gekriegt habe. Absurd. Natürlich musste ich noch vor dem Rückflug zwei A4-Seiten selbstkritische Stellungnahme schreiben. Der arme Reiseleiter – da habe ich bis heute ein schlechtes Gewissen, den für seine Großzügigkeit ‘reingerissen zu haben. Aber in dem Moment hatte ich das für mich abgewogen und dachte: „Es ist jetzt für mich wichtiger, hier einfach weiter reisen zu können.“

Folgen der Reise

Der muss das auch nach oben gemeldet haben, aber es kam überhaupt nichts an; in dieser besagten Stasiakte steht nichts drin. Aber ich habe im Freundeskreis darüber geredet, dass ich erwarte, dass ich Ärger kriege. Und genau diese Stasispitzel-Frau, deren Platz ich da belegt hatte, meldete sofort: „Der Conrad, der rechnet damit, dass er Ärger kriegt.“

PM 12
Archiv R. Conrad

Dieses Ding habe ich dann bekommen: PM 12. Ich musste meinen Ausweis abgeben und bekam so eine Klappkarte, die bedeutete, dass ich nicht mehr nach Polen oder in die Tschechoslowakei durfte. Sobald man in eine Polizeikontrolle kam – wenn man zum Beispiel Freunde in Dresden besuchen wollte – und so ein Ding vorzeigte, ging’s erst mal auf’s Revier: „Sie fahren umgehend zurück nach Hause! Sie dürfen hier gar nicht ‘rumfahren.“ Was man theoretisch gedurft hätte, aber es war sehr unangenehm ein Jahr lang.

Ich kannte den Anwalt Schnur aus Rostock. Von Berlin bin ich dann nach Rostock gefahren und hab’ mich von ihm beraten lassen. Der hat mir einen Brief an Stasi-Chef Mielke diktiert, den ich dann auch abgeschickt habe mit der Bitte: „Asche auf mein Haupt und soll nicht wieder vorkommen. Nach einem Jahr bitte ich darum, wieder den normalen Ausweis zu kriegen.“ Und tatsächlich, nach einem Jahr – ich weiß nicht, ob der Brief das nun bewirkt hat – bekam ich meinen Ausweis zurück.

Rückblende: Verhör und Protokoll

Ich musste beim KGB ein Protokoll unterschreiben. Was natürlich nicht Englisch war, aber auch nicht Russisch, sondern handschriftlich Aserbaidschanisch. Da hatte ich zwei A4-Seiten mit Hieroglyphen. „Bitte unterschreiben!“ Ich dachte dann Solschenizyn-mäßig: „Das muss ich sowieso unterschreiben und komme ins GULag oder werde verprügelt.“ Ich merkte aber irgendwie auch, die wollten Feierabend machen. Und hab’ dann so intuitiv gedacht: „Ich unterschreib’ das jetzt, das wird schon.“ Das war dann auch tatsächlich okay.

Das Verhör war auf Russisch. Irgendwann merkte ich: „Die haben jetzt so viele Thesen, was für ein Spion ich bin. Ich kann das mit meinem schlechten Russisch gar nicht entkräften.“ Hab’ ich gesagt: „Ihr könnt mich gleich wegsperren, ich sag’ gar nix mehr. Ich will ‘nen Dolmetscher haben.“ Da haben sie dann wirklich – das dauerte ein paar Stunden – eine Deutschlehrerin irgendwo aus dem Nachbarort geholt. Die hat dann geholfen. Egal was ich denen erzählt habe, die glaubten mir nicht. Die hatten meine Sachen durchsucht. Und da war noch ein alter Busfahrschein aus Greifswald unten in der Tasche drin. Es gab damals Entwerter, die die Fahrscheine lochten. Und da haben die gedacht, das wäre hightechmäßig ein IBM-Lochcode, eine verschlüsselte Nachricht. Dann hatte ich so einen Stapel Postkarten, die ich unterwegs gekauft hatte, sowjetische Motive. Einige hatte ich von Bettlern auf der Straße gekauft. Da haben die gefragt: „Wo haben sie die Postkarten her?“ „Naja, aus’m Postkartenladen, aus dem Buchladen.“ „Das kann nicht stimmen, hier sind Postkarten aus den 50-er Jahren!“ „Ach ja, die habe ich von Leuten auf der Straße gekauft.“ „Sie lügen doch hier nur!“ Und dann hatte ich noch einen Stapel Telegramme, Telegrammformulare. Die hatte ich vom Postamt mitgenommen, auch souvenirmäßig, die waren so A5-groß mit riesigen Sowjetwappen drauf, CCCP, die wollte ich als Briefpapier nehmen. Dummerweise war da eins schon angefangen; ein Einheimischer hatte was geschrieben, sich vertan, das beiseite gepackt, und das war dann mit dabei. Da habe ich gesagt: „Nein, das will ich einfach so als Souvenir-Briefpapier nach Hause mitnehmen.“ „Hier ist ja irgendwas draufgeschrieben; sie haben an ihre Agentenführer in Amerika die ersten Botschaften absetzen wollen. Und jetzt halten Sie uns mal nicht für blöd!“

Irgendwann wollten sie sich aber nur noch unterhalten, ob ich Lada-Autos toll finde und so weiter. Wo man merkte, jetzt wird’s privat und jetzt ist es durch. Das habe ich immer wieder gemerkt: Die Leute selber sind eigentlich ganz nett, selbst beim KGB. Aber ich hätte mich nicht wundern dürfen, wenn sie dann doch nicht so nett gewesen wären und mich dauerhaft eingesperrt hätten.

Rückblende: Rückkehr zur Reisegruppe

Ich bin mit einem normalen Linienbus abends zurückgeschickt worden nach Baku, das waren so 200-300 Kilometer; begleitet von einem Polizisten, der extra für mich abgestellt war, mit Kalaschnikow, ‘nem viel zu großen Mantel, wo alle möglichen Nähte geplatzt waren, der im Bus unentwegt Sonnenblumenkerne knabberte und ich mich wunderte, dass er den Bus mit seinen Schalen vollbröselt. Der war ganz ängstlich, dass er jetzt den schwierigen Ausländer bis in die Hauptstadt Baku bringen soll. Mit meinem schlechten Russisch hab ich ein bisschen Smallltalk machen wollen, gute Stimmung verbreiten und ein bisschen plaudern. Habe ihn gefragt, was er sich in seinem Leben wünscht, was für ihn richtig toll wäre. Da hat er wirklich wie in einem schlechten Film gesagt: „Einmal im Leben nach Moskau.“ Dieser Polizist wollte einmal im Leben in Moskau gewesen sein! In Baku habe ich das Taxi klargemacht und dann gucke ich: „Wo ist er denn jetzt hin, mein Bewacher?“ Ich sah ihn völlig aufgelöst am anderen Ende des Busbahnhofs. Er hatte mich nicht mehr im Blick, war völlig überfordert und total glücklich, als ich ihn mitgenommen habe.

Gastfreundschaft

Beim Trampen hatte man ständig neue Kumpels und wurde weitergereicht. Das kannte ich aus der DDR nicht. Gerade in diesen südlichen Sowjetrepubliken ist man aus den Autos kaum ‘rausgekommen. Ich dachte mir: „Jetzt würde ich gern ein Stündchen in der Steppe umherlaufen und ein paar Fotos machen.“ Es ging nicht. Sofort hielt das nächste Auto: „Wo willst du hin? Ich fahre nur bis da und dahin, aber ich halte dann ein anderes Auto für dich an, das dich mitnimmt. Aber du kannst auch noch bei uns bleiben. Meine Frau würde sich freuen und die Oma auch.“ – total rührend! Ich war für die so was wie – es war völlig egal, ob ich aus der DDR komme oder aus der Bundesrepublik oder den USA – ein Außerirdischer. Das war ein starrer und restriktiver Staat, aber die Leute waren sehr kuschelig und nett, haben uns dauernd eingeladen. Das hat mich nicht überrascht, aber es hat mich bestärkt, [aus der Reisegruppe] abzuhauen, weil klar war, dieses Land mit seinen Leuten fängt dich auf, solange du nicht von der Polizei erwischt wirst, was dann leider zu früh passierte.

Geheimhaltung

Dann war da die Sache mit der Geheimhaltung. Ich hatte mir im Papierladen eine Landkarte von der Gegend um Baku gekauft. Und dann sah ich am Horizont richtig große Plattenbausiedlungen und große, stadtartige, urbane Gebilde, die auf meiner Landkarte nicht drauf waren. Ich bin bis zur nächsten größeren Stadt getrampt, wo mich dann die Polizei aufschnappte. Und das war eigentlich nur so ein kleines Kaff. Das erschien auf der Landkarte wiederum richtig groß, war als Verwaltungszentrum vielleicht auch wirklich bedeutend, aber es stimmte alles hinten und vorne nicht. Als ich dann wieder zurückgebracht worden war, sagte der Hotelchef in Baku, ich könne froh sein, dass ich da wieder ‘rausgekommen bin, weil da ganz viel Militärgelände ist.

Ethnische Spannungen

Das mit den ethnischen Differenzen, das hatten wir nicht auf dem Schirm. Es war schockierend, wenn gesagt wurde: „Das ist ein Russe, das Schwein!“ In einer Cognacstube in Tiflis saßen mehrere dicke, feiste Polizeioffiziere mit ihren noch dickeren Frauen. Die waren schon angeschickert. Und dann fing die Frau von dem einen an, dessen Pistole aus dem Halfter zu ziehen, zielte auf den Kellner und ich fragte: „Muss das sein und warum? Was ist jetzt mit dem Kellner wieder?“ Und die: „Das ist ein Russe, der Arsch, den müssen wir sofort abschießen!“ Da habe ich 1985 doch gestaunt als DDR-Bürger – von einem Staatsdiener, einem Polizeioffizier! Das war ziemlich deutlich, auch in Aserbaidschan gegen Armenier.

Stalinkult

Und gestaunt habe ich auch, als Stalinbilder aufgetauchten. Wir haben in Baku einen Bettelmusiker mit so einem Saiteninstrument mit ganz langem Hals gesehen. Der hatte vier Aufkleber auf dem Instrument: Marx, Engels, Lenin und dann noch mal einer. Die waren aus einem Set und ein großer Stalin daneben. Das war für mich ’85 völlig irre.

Beim Trampen hatte einer ein Stalin-Bild im LKW vorne drin und da habe ich vorsichtig nachgefragt. Der sagte nur: „War ein guter Mann!“ und dann habe ich nicht mehr weiter gefragt.

Armut

Meine Vorbehalte wurden noch einmal übertroffen, als ich beim Trampen in Aserbaidschan vom Auto aus Siedlungen gesehen hab’, wo die Leute wirklich in Erdhütten lebten; also Löcher in der Erde und ein Dach drüber, irgendwie so’n Notdach, keine Fenster und ein Ofenrohr ‘raus, es war März und noch kalt und die Wäsche draußen… Das war keine Expedition oder Militär, das da trainiert; da lebten offenbar Familien. In der Altstadt von Baku gab es keine Entwässerung. Da liefen die Abwässer wie im Mittelalter in der Gosse im Rinnstein und es stank entsprechend. Und da ist man dann wirklich mit zugehaltener Nase durchgelaufen.

In Aserbaidschan beim Trampen habe ich -zig Kilometer, vielleicht 100 Kilometer Bahnlinie gesehen, eingleisig, immer parallel zur Landstraße und ringsherum Steppe bis zum Horizont. Plötzlich liegt auf dieser Bahnstrecke ein langer Güterzug, entgleist, ausgebrannt und mit Moos und Grünzeug überwachsen. Wo klar war: auf dieser Bahnstrecke fährt nichts. Hier kann nichts fahren, hier ist dieser entgleiste Zug, um den sich keiner kümmert.

In Armenien in Jerewan waren wir dann in den Slums außerhalb der Plattenbausiedlungen, die wesentlich rustikaler aussahen als bei uns hier in Marzahn/Hellersdorf, Schlamm überall und alles ziemlich kaputt. Und daneben richtige Slums, Wellblechhütten, Bretterhütten. Wo wir dann eingeladen wurden und die Leute auch wieder ganz rührend waren und uns noch bekocht haben.

Westkontakte

In Armenien waren wir bei jungen Leuten eingeladen, die hatten Westschallplatten. Da haben wir echt ein Auge gekriegt: Jazz- und Rockplatten in der fernen Sowjetunion, die waren da musikalisch richtig gut sortiert. Die hatten Kumpels in Amerika und der eine hatte auch einen Ausreiseantrag nach Amerika. Vorher waren wir immer quasi die Westler, und plötzlich merkten wir, einige dort sind auch ganz gut vernetzt. Ich würde gerne wissen, was er heute macht.

Robert Conrad in seiner Fotoausstellung
Foto: U. Gerlant

Fazit

Ich habe da nie wirklich viel erwartet und deswegen gab es auch nicht den vielleicht für viele DDR-Bürger normalen Bruch; dass man ein ganz anderes Bild durch die Propaganda in der DDR von der Sowjetunion hatte, was dann quasi enttäuscht wurde. Das war bei mir nicht unbedingt so, aber es war dann doch noch einen ganzen Zacken elender und desaströser dort, als ich sowieso schon gedacht hatte.

Interview: Uta Gerlant

Unerwünschte Wege 2023