Herkunft
Ich wurde in Gomel, in der damaligen Sowjetunion, im heutigen Belarus, geboren. Aber nicht, weil meine Eltern dort lebten. Meine Mutter war sowjetische Staatsbürgerin, mein Vater Deutscher, also DDR-Bürger. Die haben sich beim Studium in Moskau kennengelernt, Chemie studiert. Ich war die Diplomarbeit. Sie lebten dann schon in Borna bei Leipzig. Meine Mutter wurde schwanger und wollte mich auf Heimatboden zur Welt bringen bei ihren Verwandten, denn sie war ganz alleine hier. Da hat sie sich hochschwanger in den Zug gesetzt, ist zurückgefahren. Und dort kam ich dann auf die Welt. Ob das jetzt die bessere Idee war oder die schlechtere? Es war halt so ein Allgemeinkrankenhaus. Ich habe es mir später mal angucken können: 60 Betten in einem Raum, also Geburt neben krebskrank und Knochenbruch.
Das ist das eine und das andere ist: Ich bin in der DDR aufgewachsen, hatte aber eine Mutter, die komplett alleine in der DDR war. Da war der Vater. Jeder war die große Liebe des anderen und deshalb hielt die Ehe auch. Trotzdem wollte sie sich so schnell wie möglich integrieren in die DDR-Gesellschaft. Das bedeutet, ich bin nicht in einer russischen Community oder einer sowjetischen Community wie viele andere groß geworden. Wir hatten auch nicht allzu viele deutsche Verwandte in Ostdeutschland, in der DDR, denn mein Vater war ein Flüchtlingskind im Zweiten Weltkrieg; geboren in Gdańsk, damals Danzig.
Und so wuchs ich zwar zweisprachig auf, aber meine wirkliche Muttersprache ist eigentlich Deutsch. Ich sprach sehr gut Russisch, viel besser als jetzt. Wir mussten zu Hause so lange Russisch sprechen, bis meine Mutter genug Deutsch konnte. Und dann haben wir eigentlich nur noch Russisch gesprochen, wenn wir uns stritten. Also immer, wenn es emotional wurde.
Schule
Es gab Probleme im Russischunterricht hier in der DDR, da da ein Bild vermittelt wurde… Ich ging in eine Klasse mit erweitertem Russischunterricht. Denn Schreiben und Lesen musste ich schon lernen. Ich konnte zwar sprechen, sicher besser als die Lehrerin, sicher auch anders als die Lehrerin. Aber da wurde ein Bild vermittelt, was hinten und vorne nicht stimmte. Genauso war das im damaligen Geschichtsunterricht, im Staatsbürgerkundeunterricht. Da gab es dann immer Probleme, weil ich sagen konnte (nicht gern gesehen oder gehört): „Nö, ist anders. Ich kann sagen, es ist anders.“ Da gab es dann immer mal irgendwelche Aussprachen.
In der DDR wurde vermittelt, dass die Sowjetunion den Kommunismus schon aufbaut. Das bedeutet, die DDR baut den Sozialismus auf und die Sowjetunion hat den Sozialismus schon und baut den Kommunismus auf. Wenn man also den Gedanken vor sich sieht, dass die Menschheit sich in ihren Gesellschaftssystemen ständig voran entwickelt – ich habe da meine Zweifel – dann ist sozusagen die Sowjetunion schon eine Stufe höher geklettert. Nach dem, was ich dort aber kennenlernte durch meine häufigen Aufenthalte, meine jährlichen, konnte ich sagen: „Nö, wenn ich das vergleiche, stimmt das nicht.“ Für den normalen sowjetischen Bürger dort war die DDR das goldene Land. Eldorado – am liebsten würden sie alle hierher kommen. Ein viel, viel besserer Lebensstandard, das muss man so sagen. Das wurde aber im Unterricht nicht gerne gehört. Das Thema wurde dann abgewürgt und ich musste zur Aussprache oder meine Eltern mussten zu einer Aussprache. Pillepalle, hat mich von meinem Denken nicht abgebracht.
Dann kam ich auf die Penne und da haben sie mich erst mal in die DSF ‘reinhaben wollen; Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Ich sage: „Leute, ich bin doch selber Sowjetbürger! Soll ich jetzt mit mir selber Freundschaft halten? Was soll das?“ „Naja, okay, verstehen wir, wollen sie nicht wenigstens in die GST?“ „GST, da habe ich nichts dagegen.“ Also für mich ist diese militärische Ausbildung überhaupt nichts Schlimmes. A) finde ich sie gut und b) machte mir so was Spaß. Da über die Eskaladierwand kriechen, krabbeln, rennen – super, machte mir Spaß. Mit dem Schießen hatte ich keine Probleme. Hab’ immer getroffen. Wie gesagt, da hat man geschossen, aber man hat’s einem nicht beigebracht. Und das war wie Räuber und Gendarm spielen. Und zum Militär musste ich nicht. War ja sowjetischer Staatsbürger.
Selbstbehauptung
Aber nichtsdestotrotz war es so, dass es Anfeindungen gab. Es gab zwei Sachen. Das eine war Antisemitismus, der bei manchen immer noch herrschte. Und da gab es die eine oder andere Prügelei, wenn jemand was Schlechtes über Juden sagte. Andererseits hatte ich Freunde, die mir halfen, das muss ich ganz klar sagen. Der Russe zu sein, das war definitiv ein Problem. Weil einfach zu viele Großeltern wirklich Schlimmes erlebt haben an Vergewaltigungen und und und… Und das dann natürlich auch auf ihre Enkelgeneration übertrugen, diese Ressentiments. Dann war die DDR ja eine besetzte Zone. Das heißt, die Russen waren der Feind, die waren die Besatzer. Das darf man auch nicht vergessen.
Und in Russland, also in Belarus, in Gomel musste ich mich dann gegenüber Gleichaltrigen beweisen, weil ich war ja der Deutsche. Die hatten von denen ja auch nicht allzu viel Gutes erfahren. Mit denen musste ich mich auseinandersetzen, aber ich hatte dann doch einen relativ engen Freundeskreis.
Staatsbürgerschaft 1
Ich hatte anfangs zwei Staatsbürgerschaften, sowohl die DDR-Staatsbürgerschaft als auch die sowjetische. Aber ich glaube, 1974 – ich kann mich auch irren – gab es irgendeinen UNO-Beschluss gegen doppelte Staatsbürgerschaften. Und niemand hielt sich dran, nur die DDR. Denn die war froh, dass sie endlich in der UNO war. Ja, und daraufhin mussten wir eine abgeben. Meine Eltern entschieden sich für die sowjetische Staatsbürgerschaft, dass ich die behalte und die DDR- Staatsbürgerschaft abgebe. Der Grund war einfach: Wir fuhren jedes Jahr in die Sowjetunion, sprich nach Gomel in Belarus, zu den Verwandten meiner Mutter. So lernte ich die Sowjetunion von klein auf kennen.
Mit 14 haben sie mich zum ersten Mal gefragt und ich hätte die Staatsbürgerschaft wechseln können. Und da haben sie mich gefragt: „Wollen sie nicht DDR-Bürger werden?“ „Nö.“ „Ja, warum denn nicht?“ Habe ich gesagt: „Ich bin stolz auf meine Staatsbürgerschaft.“ Konnten sie schlecht was dagegen sagen. Dann bekam ich diese ständige Aufenthaltserlaubnis. Sah aus wie der DDR-Personalausweis, nur war er rot. Ja, und ich brauchte dadurch auch kein Visum.
Auszeit
Ich war in die Theaterszene in Leipzig involviert, was Off-Theater betrifft. Irgendwann kennst du dort jeden. Irgendwann hast du jedes Gesicht tausendmal gesehen. Und irgendwann wurde ich da auch der ganzen Geschichte überdrüssig. Ich wusste, ich werde in Babelsberg an der Filmhochschule mein Schauspielstudium beginnen. Das war im Sommer ’88. Ich wusste, ich werde etwas Neues beginnen und wollte da eine Zäsur setzen. Das habe ich mit dieser Reise gemacht. Und dann bin ich da hingefahren, ganz weit weg – ich wollte einfach keine Leute mehr sehen. Ja, ich brauchte eine Auszeit. Die habe ich mir dort genommen, in Sibirien. „Viel Natur, wenig Menschen“, dachte ich.
Baikalsk
Ich habe mich in den Zug gesetzt, ich brauchte ja kein Visum als sowjetischer Staatsbürger. Ich brauchte auch für Polen kein Durchgangsvisum damals. Und bin erst mal nach Moskau gefahren, zu Verwandten. Und von Moskau aus nach Irkutsk geflogen. Ich hatte ein Rückflugticket, das war wichtig. Bin in Irkutsk angekommen, wollte mir die Stadt gar nicht groß angucken. Hab’ den Bahnhof gesehen, der sah aus wie die russischen Bahnhöfe, die ich kannte. Und dachte einfach nur: „Ich will jetzt Richtung Baikalsee.“ Ich hatte ‘ne Karte, mit der ich wirklich nicht viel anfangen konnte. Es ist ja nicht wie heute, wo du die detailliertesten Karten bekommst von jeder Ecke der Welt. Ich hatte ‘ne Karte, die war so 50 mal 30 Zentimeter die Sowjetunion. Und ich wusste, ich will zum Baikalsee. Da stand ein Zug Richtung Bailkalsk. Dachte ich mir: „Baikalsk, das muss am Baikalsee liegen, fahre ich dorthin.“ Hab’ ich ‘nen Ticket geholt und mich in den Zug gesetzt. Und dann habe ich die ersten Leute kennengelernt dort, Jungs in meinem Alter. Sie saßen im selben Abteil.
Es war eine fünfstündige Fahrten von Irkutsk nach Baikalsk in so ‘nem Rumpelzug. Wir kamen ins Gespräch. Ich fiel ja auf wie ein grüner Esel mit meiner DDR-Kraxe. Das ist so ein spezieller Rucksack: ein Gestänge, was den Rucksack an der Rückenpartie stabilisiert, und mein Fichtelbergzelt. Ich hatte total lange Haare, das war dort auch nicht üblich, fanden sie toll: „Wir bringen dich an den See, wir wissen einen guten Ort, wo du zelten kannst.“ Der Effekt war, dass ich dann erstmal eine knappe Woche am Baikalsee war. Am Rande der Ortschaft Baikalsk, zwischen den typischen sozialistischen Betonklötzen, die so gesichtslos sind und gleichzeitig diesen alten Holzhäusern. Ich war dann eine Woche nicht allein, sondern die ganze Jugend des Ortes traf sich dort, um den bekloppten Deutschen zu sehen, mir beizubringen, wie man Fische im Wasser sticht. Ich habe es nicht hingekriegt; die konnten das sehr gut. Wir haben die ganze Zeit gesungen, Gitarre gespielt, Lagerfeuer gemacht. Das war anfangs interessant, weil wir uns über unsere Biografien ausgetauscht haben. Aber es war nicht das, was ich wollte, bis ich dann irgendwann sagte: „Jungs, ich gehe in den Wald, in die Berge.“ Für die war das nicht ungewöhnlich. Für die war nur ungewöhnlich, dass da jemand allein ‘reingehen wollte, was eine ziemlich bescheuerte Idee war in ihren Augen. In meinen jetzt auch. Kann eine Menge passieren, wusste ich damals aber nicht. Und sie fanden es eine schlechte Idee, dass ich alleine gehe und beschlossen: „Wir kommen mit.“ Der eine oder andere war schon mal in der Taiga gewesen mit irgendwelchen Onkels oder Vätern, aber nur so kleine Ausflüge. „Wie lange willst Du denn gehen?“ „’Ne Woche auf jeden Fall.“ Und dann habe ich eine Deadline gesetzt: „Sonntag will ich in den Wald, wer mitkommt, kommt mit.“ Nach und nach sprang jeder ab. „Nein, ich darf nicht. Die Eltern erlauben es nicht.“ „Ich hab’ dann doch keine Zeit.“ „Nee, ich muss wegfahren.“
Mit Wasja in der Taiga
Am Samstag kam einer zu mir und sagte: „Mein Onkel hat von dir gehört. Der will dich mal sehen.“ „Warum?“ „Na ja, er hat gesagt, eh der jetzt alleine los geht – vielleicht kann ich ihn mitnehmen.“ „Wie mitnehmen?“ „Na, der geht in den Wald, der ist Jäger.“ „Ach, wie geil ist das denn?“ „Ja, aber der will dich vorher sehen. Der will dich erst mal in Augenschein nehmen.“ Was ja richtig war. Und so kam es, dass ich mein Zelt zusammen packte und wir da hin sind in einen dieser Neubaublocks. Wo der Bengel mit seiner Mutter wohnte, kein Vater usw., aber der Bruder der Mutter. Der eigentlich fast sein ganzes Leben im Wald verbrachte, wie ich dann später feststellte. Wenn er im Ort war, dann wohnte er bei seiner Schwester. Also diese kleinen, russischen, beengten Verhältnisse. Dann haben wir uns gesehen. Er wollte meine Beweggründe wissen. Mir saß ein Mann gegenüber: kleines bisschen kleiner als ich, sehnig, schlank. Ungeheuer agil, ungeheure Energie versprühend, ein paar Zähne fehlten – der war 34 damals. Und er wollte eben genau an dem Tag, den ich mir als Stichtag gesetzt hatte, losgehen. Er hat mich für gut genug befunden: „In Ordnung!“ Und dann hat er sich erst mal meine Ausrüstung angeguckt und musste ganz doll lachen. Und hat ganz viel aussortiert: meine Wanderschuhe, „weg!“. „Warum? Das sind gute Wanderschuhe!“ „Die überleben’s nicht. Nach drei Tagen sind deine Schuhe kaputt, völlig. Dann nimm doch welche, die billig sind. Die können ruhig kaputt gehen.“ Deswegen habe ich dann meine hoch geliebten Volleyballturnschuhe angezogen. Ja, die waren danach auch durch. Und die Klamotten haben wir alle dort gelassen. Nur das, was man brauchte. Das Fichtelbergzelt haben wir Tatsache mitgeschleppt, weil er so begeistert davon war, haben wir aber kein einziges Mal benutzt.
Hab’ ich gefragt: „Warum lassen wir so viel hier?“ Sagt er: „Wir müssen Proviant mitnehmen.“ Ich glaube, wir wollten nur anderthalb Wochen ‘rein in den Wald, dann waren wir über drei Wochen da. Dementsprechend hatten wir Mangel an Proviant. Jedenfalls mussten wir Proviant mitnehmen: ganz viel Zucker. Zucker war damals rationiert, also musste man Bonbons nehmen oder irgend so was zum Süßen.
Dann sind wir erst mal mit dem Bus gefahren. Nach mehreren Stunden sind wir ‘raus; sind losgelaufen und ich ihm hinterher. Ich habe mein Leben lang immer sehr viel Sport gemacht; ich dachte, ich bin topfit. Ich stellte fest, dass ich dem Mann nicht das Wasser reichen konnte – ich konnte mit ihm einfach nicht mithalten. Es waren ungewohnte Belastungen: schwerer Rucksack auf den Schultern, und ich wusste nicht, was es heißt, ohne Weg zu laufen. Wir sind in den Chamar-Daban aufgebrochen. Das ist so ein Mittelgebirge in der Nähe des Baikalsees. Chamar-Daban, das ist ein burjatischer Name. Burjaten sind die asiatischen Ureinwohner, die dort leben. Wasja hatte bei einem Schamanen gelernt. Das heißt, er war gut im Fallenstellen, im Tierefinden, im Spurenlesen und und und. Jemand, der so aufwächst, der lässt sich so schnell nichts sagen.
Der musste natürlich irgendwann auch in die Armee. In der sowjetischen Armee, das weiß ich auch von meinem Cousin, war damals Prügelstrafe normal verbreitet. Mein Cousin hat in einem Bauregiment zwischen lauter Schwerverbrechern gedient. Er ist Jude und hat das eigentlich nur überlebt, weil er für einen der Obermuckis dort die Liebesbriefe schrieb. Und der hat dann gesagt: „Fasst den nicht an, der soll meine Liebesbriefe nach Hause schreiben.“ Wasja hat die beiden Unteroffiziere, die ihm eine Lektion erteilen wollten, vermöbelt; damit kam er vor’s Militärgericht. Und wurde zu den Eisbären geschickt – Strafkompanie. An den Rand der Beringstraße, wo damals die Amis und die Sowjetunion ständig ihre Grenzen testeten. Die Ausbildung muss sehr hart gewesen sein, auch sehr viel Selbstverteidigung… Und nachdem die Armee vorbei war, hat er bei einer dieser üblichen Kloppereien aus Versehen jemanden tot gehauen. Er hatte einfach zu viel gelernt. Daraufhin musste er für fünf Jahre ins Gefängnis. Danach hatte er keine Lizenz mehr, eine Waffe benutzen zu können. Als Jäger – das war vorbei. Das bedeutet, er war offiziell Sammler. Was er auch war. In den Wäldern dort wächst – ich kenne es nur unter dem Namen sibirskij kedr – die sibirische Zirbelkiefer. Die Nüsse sind saugesund, sind auch Bestandteil in irgendwelchen Medikamenten. Ist nur schwer ‘ran zu kommen, sehr mühselig. Das war also unser Plan: Wir gehen dorthin, anderthalb Wochen, dann holen wir uns genügend Nüsse und dann ‘raus aus dem Wald. Das heißt, wir sind aufgebrochen, um zu arbeiten.
Die ersten drei Tage waren wirklich die Hölle. Ich musste lernen, wie man läuft. Er meinte immer, ich laufe wie ein Elefant. Alles, was ich machte, war zu langsam. Eine normale Pause bestand darin: kurz hinsetzen, Wasser trinken und dann weiter. Eine richtige Pause – die war aber auch nicht länger als eine halbe Stunde – war Tee kochen. Bei einer dieser Pausen ist er weggegangen und kam mit einem Lappen zurück, den er dann auswickelte. Da war ‘ne Flinte drin, ein Doppelläufer von 1931. Dann hat er mir das erklärt und dass ich, wenn wir in der Ortschaft zurück sind, bitte meine Klappe drüber halten sollte.
In der Taiga ist es so, dass in Abständen von Tagesmärschen so eine Art Blockhütten stehen. Für Jäger, für Sammler, für Geologen – dort ist keiner aus Spaß unterwegs. Für die sind die Berge oder der Wald eigentlich feindliches Gebiet. Der ist nicht gut, und sie haben recht: Es kommen immer wieder Leute um. Aber Wasja hatte keine große Wahl. Er hatte keinen Beruf gelernt. Es war das, was er konnte. Er musste das mehr oder weniger illegal durchziehen. Das mit den Nüssen, das war in Ordnung. Da hat man aber auch richtig Geld verdient.
Die Blockhütten sind ungeheuer massiv; von alleine kommt da kein Bär rein. Und es gibt immer so die Regel, wenn man keinen Proviant hat und Proviant benutzt: Man muss mindestens die Hälfte da lassen von dem, was man vorgefunden hat, und wenn man Proviant hat, muss man auffüllen, selbst wenn man nichts davon benutzt hat. Und die Arzneimittel, die sind für den Notbedarf. Genau das Gleiche war mit Feuerholz. Man hat zwar trockenes Holz benutzt, aber man musste genauso viel frisches Holz schlagen, damit andere dann trockenes Holz haben. Das bedeutet, du kommst da an, bist fix und fertig und dann geht es erst mal ans Holzschlagen, Feuermachen, Essenkochen, Sachenflicken – wenn irgendwo ein Loch war, da hat er sich sofort ‘rangemacht, musste ich auch machen. Sonst fällt dir das nach einer Woche alles vom Arsch. Sachen, die nass sind, trocknen, damit man sich nicht irgendwelche Blasen läuft, wundläuft. Die Hygiene beschränkte sich eigentlich vor allem darauf, sich die Zähne zu putzen. Darauf legte er Wert. Obwohl Wasja wirklich nicht mehr viele hatte. Und das war wichtig: Jeden Abend die Zecken entfernen.
Dort konnte es nachts auch schon mal schneien (also tagsüber waren immer, wir hatten ja kein Thermometer, ich schätze mal über 30 Grad). Da hast du natürlich kein großes Feuer gemacht. Bären gehen nicht zum Feuer; es ging um Menschen. Also es gibt dort ja auch Gefängnisse, aus denen regelmäßig jemand ausbricht. Und es ist nicht so, dass das alles politische Gefangene sind, sondern einfach Otto Normalverbraucher. Wasja selber ist niedergestochen worden; es waren zwei Stiche, die Narben hat er mir gezeigt. Er hat gesagt: „Sie waren doof, sie hätten mich umbringen sollen.“ Sie dachten, das reicht und haben ihn zurückgelassen, sind weg mit seinem Zeug. „Zwei Tage später hatte ich sie.“ Mehr hat er nicht erzählt.
Drei Tage später waren wir da, wo wir sein wollten. Der Herbst ging schneller voran als gewollt. Und die Beeren, von denen die Tiere sich ernähren, die waren da oben schon vorbei, die waren nur noch unten in den Sümpfen. Das heißt, die Tiere waren alle aus den Bergen ‘runter gewandert. Wir merkten, wir haben zu wenig Proviant. Weil wir nichts schießen können, weil einfach nichts da ist. Es war dann was da: es gab mal eine Bergziege. Das Fleisch wurde ausnahmslos gekocht. Ich dachte erst, oh ganz romantisch, wie im Film am Spieß… Aber nee, ganz pragmatisch das Zeug gekocht. „Ja warum denn?“ „Wir haben mehr davon. Es hält länger. Du hast gleichzeitig die Brühe, die dich stark macht.“ Dann gab’s mal ‘nen Vogel. Pilze gab’s auch. Wir haben uns letzten Endes von Eichhörnchen ernährt. Drei Eichhörnchen sind ein Suppenhuhn. Und wir haben uns von diesen Nüssen ernährt, die haben Kraft gegeben. Und auch von Bärlauch.
Wasja hat mir bestimmt fünf, sechs, sieben, acht, neun Mal das Leben gerettet. Ich weiß jetzt mittlerweile, dass es nicht funktioniert, einfach den Fluss entlang zu laufen, weil er teilweise unterirdisch fließt. Ich weiß mittlerweile, dass die meisten Menschen, die dort sterben oder verunglücken, sich einfach nur den Fuß verstauchen. Und dann werden sie schwach, dann können sie sich nicht mehr verpflegen, dann kommen sie nicht mehr weiter. Ich bin einmal zusammengeklappt – schwindelig, dreht sich alles, wenn du einfach so’n Hunger hast. Mit der Schwäche kannst du auch nicht mehr die Richtung halten. Der Kopf funktioniert einfach nicht mehr. Das Gehirn funktioniert nicht mehr normal. Und so sterben die meisten Leute nicht irgendwie spektakulär.
Dann hatte mich eine Schlange erwischt. Kann auch passieren. Aber da hat diese Medizin geholfen. Wasja hat das Messer heiß gemacht, mir reingeschnitten in den Finger, damit das rausgeht, die Narbe habe ich immer noch. „Hier, trink das!“ Die haben da was, das ist vom Hirsch, wenn die Hörner jung sind. Das Blut da drin, das ist scheinbar wie so’n Kreislaufwecker. Und das haben die verdünnt dort stehen; nicht in jeder Hütte, aber in manchen. Und das hat mir geholfen. Also ich hab’s noch bis zur Hütte geschafft, habe mit ihm gesprochen und dann war es nicht mehr so schön. Aber am nächsten Tag war ich wieder ansprechbar, hab’ eigentlich nur noch einen Tag zur Erholung gebraucht. Dann musste ich wieder ‘ran, gab’s gar keine Fragen.
Wir haben diese Nüsse gesammelt. Du hast entweder Zapfen unten am Boden liegen, die noch voll sind. Oder du haust mit einem riesengroßen, schweren Hammer gegen die Bäume. Dann sammelst du die Zapfen auf. Dann trägst du die zur Blockhütte. Und dann gibt’s so’n Kasten, der ist an einen Baum genagelt. In diesem Kasten ist ‘ne Art Walze, die wird durch eine Kurbel außen bedient. Von oben die Zapfen rein, die werden zermahlen. Und dann wird es erst mal getrocknet. Wenn es getrocknet ist, wird es gesiebt. So werden diese Nüsse gewonnen.
Es gab da so einen Berg, Bulka nannte er den und die Aussicht, die war wirklich wunderschön. Unendliche Wälder, keine Ortschaft, kein Rauch. Und das war schon ein Gefühl von Freiheit. Bei solchen Gelegenheiten sang er Lieder von Wysocki, und er war erstaunt, dass ich Wysocki nicht kannte. Das waren eigentlich die Momente, weshalb ich da hingefahren bin: dort oben sitzen, die Natur sehen, ‘nen völlig durchgeknallten, lieben Typen neben mir, der Wysocki-Lieder singt, ja, das fand ich gut.
Und dann standen da zwei riesengroße, bärtige Typen. Die sahen einander gleich wie Zwillinge. Es waren auch Brüder hat sich dann ‘rausgestellt. Und die haben mir nichts Böses getan. Die standen erst mal da: Wer ich bin, was ich will, und so weiter. Und dann kam Wasja, der die ganze Zeit, glaube ich, in der Nähe der Hütte war, so im Hintergrund. Die dachten, wir sind Räuber. Dann stellte sich heraus, das sind Jäger und Sammler wie er. Und sie kennen dieselben Leute. Und sie haben auch schon von Wasja gehört. Jedenfalls haben wir ‘nen Deal gemacht: Jeder sammelt weiter in seinem Bereich. Die wussten, dass an dem und dem Tag Militär die Straße lang kommt. Die würden praktisch von uns das Zeug mit transportieren. Dafür bekamen sie einen vollen Sack ab. Die haben unser Zeug mit ‘raus gebracht. Das war das Schöne.
Das Doofe war, dass wir die eines Tages besucht haben in ihrer Hütte. Und da war ein Dritter. Da hatten sie ‘nen Dieb erwischt, der sie beklauen wollte. Es gab ein langes hin und her, immer mit Seitenblicken auf mich: „Was machen wir mit ihm?“ Haben sie gesagt: „Es ist ganz einfach.“ Ich sag: „Wie, was?“ „Eigentlich müsste man ihn aufhängen am Strick, weil er uns beklauen wollte. Der wollte unsere Munition klauen, der wollte unsere Nahrungsmittel klauen. Ohne Munition und Nahrungsmittel bist du tot, fertig. Am nächsten Baum aufhängen!“ Ich: „Das könnt ihr nicht tun!“ „Sind eigentlich die Regeln.“ Und dann haben die das auf die alte Weise gemacht: haben ihm die Schuhe ausgezogen, einen Baumstamm auf den Rücken geschnallt, die Arme ‘rangebunden, und wenn er Glück hat, kommt er aus der Wildnis raus. Und wenn nicht, nicht. Wasja meinte, ein Strick um den Hals wäre besser gewesen, so braucht er länger. Aber gut, das wollten sie nicht machen, meinetwegen. Das hing mir noch ‘ne Weile nach, das muss ich ehrlich zugeben. Na ja, jedenfalls wurde unser Zeug dann abgeholt. Das war toll und wir sind dann auf unserem Weg wieder ‘raus aus der Taiga. Er hat das Gewehr dort versteckt, wo er es her hatte und diesmal durfte ich dabei sein.
Wir sind wieder bis zur letzten Ortschaft gelaufen, diese zwei, drei Tage. Dort haben wir uns in den Bus gesetzt und sind nach Baikalsk gefahren. Dann durfte ich aber nicht mehr ins Zelt an den See. Sagt er: „Auf keinen Fall.” Da war ein großes Hallo von der Schwester, weil die wusste, ihr Bruder hat jetzt sehr viel Geld. Und mein Anteil wären 3.000 Rubel gewesen, was zu der damaligen Zeit ungeheuer viel Geld war. Er wollte, dass ich mir eine Kamera hole. Ich hab gesagt: „Wieso? Verzeihung, Moment, was machst du mit deinem Geld? Also, ich meine, davon kannst du jetzt ‘ne Weile hier leben.“ „Nö.“ Ich: „Was nö?“ „Ich halt’s hier im Ort nicht lange aus. Ich kann nicht in Städten oder Orten wohnen.“ Er fühlte sich wirklich nur im Wald wohl. „Was machst du also?“ „Ich brauche noch genug Munition, um wieder in den Wald zu gehen. Und den Rest hauen wir auf den Kopf.“ Da habe ich gesagt: „Okay, dann machen wir das mit meinem Anteil auch.“ Daraufhin waren alle unsere Gäste, alle seine Freunde, alle Bekannten, alle, denen er noch was schuldig war, die ihm noch was schuldig waren. Es wurde die ganze Zeit durchgefeiert, durchgesoffen, wie auch immer. Der war kein Kind von Traurigkeit. Ich bestieg dann mit einem riesen Brummschädel den Zug nach Irkutsk und bin von da dann zum Flughafen. Kam mit einem großen Erfahrungsschatz zu meinen Verwandten in Moskau. Und Jura, der ist so halb als Waisenkind und als Straßenjunge groß geworden, der hat sich gefreut, weil ich so gesprochen und geflucht hab’ wie noch nie.
Ich war zurück in der DDR. Wir hatten Tramper, das waren solche Wildlederschuhe. Wasja hatte für die Jagd andere Schuhe an, die hat er sich selber gemacht, und ich dachte: „Mensch, Tramper, das wäre das Ideale für ihn; ganz dünne Sohle, das Ding schmiegt sich an den Fuß an, so wie es sein muss, und du kannst eigentlich gar nichts falsch machen, wenn du so laufen kannst.“ Ich habe ihm ein Paket geschickt, aber es kam nie eine Antwort. Ich weiß nicht, ob das überhaupt ankam. Und ich weiß auch nicht, was aus dem Mann geworden ist. Er sagte: „Irgendwann passiert es mir. Das steht fest.“
Staatsbürgerschaft 2
Ich glaube, es war 1990. Wir waren eine Woche in Paris, die ganze Seminargruppe. Sind mit dem Bus hingefahren, mit dem Bus zurück. Haben Theater angeguckt, war schön. Ich hätte gar nicht hinfahren dürfen, ich hätte ja ein Visum gebraucht. Dann merkte ich: „Ach du Scheiße, ist ja noch mal gut gegangen!“ Bei der Ausländerpolizei – ich lebte damals noch in Potsdam – gab es irgendeinen Wechsel, es waren jedenfalls neue Gesichter. „Sagen sie mal, wieso haben sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft?“ Habe ich ihnen kurz den Sachverhalt erklärt. Sagen sie: „Das ist schön und gut. Aber sie sind ’67 geboren. Ihr Vater ist Deutscher. Sie sind für uns Deutscher.“ „Interessant. Wenn die Regel so ist, was machen wir denn da?“ „Sie unterschreiben diesen Wisch.“ Einen Monat später hatte ich meinen deutschen Ausweis. „Und diese andere Staatsbürgerschaft hier, die sowjetische?“ „Interessiert uns überhaupt nicht.“ Gut, hatte ich also den deutschen Ausweis, den deutschen Pass. Dann habe ich mir erst mal die Welt angeguckt, aber vergessen, meinen sowjetischen Pass zu verlängern, weil ich ihn einfach nicht benutzte. Wollte wieder dorthin fahren, nach Moskau, da war der abgelaufen, relativ knapp. Bin ich zu dem Schalter; daneben war der russische Schalter in der russischen Botschaft. „Ja wie kann denn das passieren, dass der abgelaufen ist?“ Ich sagte: „Passen sie auf. Ich habe den einfach…“ „Wie kann das passieren?“ Der Typ hatte irgendwie schlecht gefrühstückt. „Ich habe eben den deutschen Ausweis im Ausland benutzt.“ „Sie haben noch die deutsche Staatsbürgerschaft?“ Ich sagte: „Ja.“ „Na, dann haben sie doch die Staatsbürgerschaft, die sie brauchen!“ „Wie, stellen sie mir jetzt keinen neuen Ausweis aus?“ „Nein.“ Der Russe von dem Schalter nebenan kriegte das mit und sagte: „Wo sind sie denn geboren?“ „In Gomel.“ „Schade, wären sie in Moskau oder in Petersburg geboren, dann hätte ich ihnen einen ausgestellt.“ Bekam er ‘nen giftigen Blick von seinem belarussischen Kollegen nebenan. Es hat ihn überhaupt nicht interessiert. Aber Fakt ist: Ich hatte dann nur noch die deutsche Staatsbürgerschaft.
Interview: Uta Gerlant
Unerwünschte Wege 2023