Die gute Rote Armee

Mein Großvater und viele andere Familienangehörige wurden in Auschwitz ermordet, mein Vater wurde in Prag befreit, die Familie meiner Mutter hat den 8. Mai 1945 ebenfalls als Tag der Befreiung erlebt und ihr Leben der Sowjetarmee zu verdanken. Aus diesem Grund wurden in meiner Familie die Rote Armee oder die Sowjetunion immer positiv konnotiert und nicht als Besatzer, sondern als Befreier betrachtet.  

Ich bin 1950 in Berlin Karlshorst geboren, ein Stadtteil im Südosten Berlins, der manchmal auch “Zehlendorf des Ostens” genannt wird. Dort gibt es viele Einfamilienhäuser, ein großer Teil von ihnen wurde nach Kriegsende von der Sowjetarmee beschlagnahmt und es wurde ein “Sperrgebiet” errichtet. Das heißt, dieser Teil war abgezäunt, mit einem hohen, grün gestrichenen Bretterzaun und für die Bevölkerung außerhalb dieses Sperrgebiets tabu, man durfte dieses Sperrgebiet nicht betreten. Dort residierte die sowjetische Militärverwaltung, auch der KGB, wie man heute weiß, damals wußte ich das natürlich noch nicht so genau, ich sah nur die ständige Präsenz der “Russen”, wie man die Angehörigen der sowjetischen Armee in der DDR kollektiv nannte. Wir wohnten direkt angrenzend an dieses Sperrgebiet auf der anderen, also der “deutschen Seite” dieses Zaunes.

Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre, genau kann ich es nicht mehr sagen, wurde dieses Sperrgebiet dann für alle geöffnet, so dass man hineingehen konnte, und noch später wurde der Zaun ganz abgerissen. Die meisten meiner Freunde wollten diese Straßen aber nicht betreten, es war ihnen dort unheimlich, wahrscheinlich empfanden sie die Militärs auch als Besatzer, im Gegenteil zu mir. So ging ich allein auf Erkundungstouren, zugegebenermaßen mit klopfendem Herzen, denn es war so etwas wie Ausland im eigenen Stadtviertel, mit fremd aussehenden Menschen, einer anderen Sprache, anderen Verhaltensweisen, anderer Kleidung, anderen Frisuren, fremd und geheimnisvoll für mich, gleichzeitig aber faszinierend…

Ich war schon immer sehr an anderen Kulturen interessiert und neugierig, habe meinen Mut zusammengenommen und bin durch die sowjetischen Geschäfte gestreift, die im deutschen Volksmund “Magazin” genannt wurden, vom russischen Wort магазин – Geschäft. Sie befanden sich, soweit ich mich erinnere, zum Teil in den Kellern der Häuser, man musste einige Stufen hinabsteigen, das allein war schon ungewöhnlich für mich, aber irgendwie auch spannend. Es war eine Zeit, in der in der DDR ein bestimmter Mangel an allerlei Produkten herrschte, die Sowjetläden aber wurden viel besser beliefert. Es gab dort beispielsweise “Sliwki” und “Smetana”, süße und saure Sahne, die den Käufern von den grell geschminkten Verkäuferinnen mit weißen Hauben aus großen Kannen mit Schöpfkellen abgefüllt wurden. Ich erinnere mich auch an einen Haushaltswarenladen, den ich sehr interessant fand, auch Schreibwaren und Drogerieartikel wurden dort verkauft, beispielsweise das Parfüm “Krasnaja Moskwa”. Der süßliche, ziemlich penetrante Geruch war sehr charakteristisch und umschwebte die sowjetischen Frauen überall auf den Straßen.

Auch Schulhefte oder Briefumschläge gab es dort. Sie waren ganz anders als die Briefumschläge oder Schulhefte, die ich kannte. Diese Briefumschläge waren mit Darstellungen von Städten bedruckt oder mit Porträts von bekannten Persönlichkeiten – Schriftsteller, Politiker, oder mit Blumen oder Tieren oder Glückwünschen zu Feiertagen mit den entsprechenden Zeichnungen dazu, auch waren die Zeilen “kuda” – wohin, “komu” – an wen vorgegeben, so dass man dort die Adresse eintragen konnte. Diese Briefumschläge haben mir sehr gefallen. Auch die Schulhefte sahen anders aus als unsere eher nüchtern-praktischen Hefte. Auf der Rückseite war manchmal ein Märchen abgedruckt oder eine schöne, phantasievolle Zeichnung, für Kinder viel ansprechender. An diese Erkundungstouren durch die sowjetischen Geschäfte erinnere ich mich sehr gut. Mit klopfendem Herzen habe ich alles betrachtet, manchmal auch etwas gekauft. 

Da Karlshorst der Standort der sowjetischen Streitkräfte war und es zahlreiche Kasernen und Militärübungsgelände gab, begegnete man auf den Straßen viel sowjetischem Militär, marschierenden Soldaten, aber auch langen Kolonnen von Panzern, die zu Manövern direkt durch die Wohngebiete fuhren. Oft bin ich morgens gegen vier Uhr vom Lärm und Gerumpel der Panzerketten aufgewacht. Die Abgase drangen durch die Fensterritzen, es war ein seltsames Schauspiel. Wenn ich dann morgens zur Schule ging, war unsere Straße wieder ein bisschen mehr lädiert … Das Panzerübungsgelände befand sich unweit unseres Hauses, vielleicht eine Viertelstunde entfernt und war seltsamerweise überhaupt nicht abgesperrt, kein Zaun, keine Wache, keine Kontrolle. Es hat mich magisch dorthingezogen, und auch hierher musste ich allein gehen, keine meiner Freundinnen wollte mich begleiten, manchmal kam unsere Haushälterin mit mir mit. Auch sie musste ich allerdings überreden … Dort habe ich, dreizehn- vierzehnjährig, zugesehen, wie die Panzer im Schlamm manövrierten, repariert wurden usw. Und ich habe Freundschaften geknüpft mit den Panzersoldaten – ich wundere mich noch heute über meine Kühnheit, mein Interesse und auch über das Vertrauen, das meine Eltern in mich hatten. Ich habe mein Schulrussisch erprobt und mich, so gut ich konnte, mit den Soldaten unterhalten. Einer von ihnen, daran erinnere ich mich noch gut, stammte aus Barnaul in Sibirien, fünftausend Kilometer von Berlin entfernt. Das hat mich sehr beeindruckt.

Es gab auch ein Kuriosum, das sich mir eingeprägt hat, denn es war etwas merkwürdig. Neben dem Panzerübungsgelände befanden sich einige Gatter, in denen Schweine gehalten wurden. Höchstwahrscheinlich für die Küche. Ein Soldat war jeweils als Schweinehirt abkommandiert und kümmerte sich um die Tiere. Auch mit ihm habe ich Gespräche geführt, worüber allerdings, daran kann ich mich nicht erinnern…

Mischa

Später dann, als Jugendliche, mit sechzehn, siebzehn Jahren, bin ich mit Puschkin-Verse rezitierenden Jünglingen, Söhnen sowjetischer Offiziere, durch die nach Flieder und Jasmin duftenden Straßen von Karlshorst spaziert. Das war romantisch und hat mir gefallen, denn Verse zu rezitieren war bei uns völlig unüblich … Im Frühling, wenn der Flieder blüht, denke ich oft an diese schönen Spaziergänge zurück. Der Höhepunkt der Woche aber war für mich der Mittwoch. Das war der Kinotag im sowjetischen „Haus der Offiziere“. Das “Dom Ofizerow” war sozusagen das sowjetische Kulturhaus in Karlshorst und mittwochs war dort Kino-Tag. Zwar besuchte offenbar niemand aus der deutschen Bevölkerung die dortigen Veranstaltungen, aber es war wohl nicht verboten. Also habe ich mich auch hierher gewagt, ebenfalls mit klopfendem Herzen…

Im halbleeren Saal schaute ich mir russischsprachige Spielfilme an, auch wenn ich fast nichts verstand. Bereits der Vorfilm faszinierte mich, meist war es eine Dokumentation über die unendlichen Weiten Sibiriens, eine seltene Tierart oder sonstige Denkwürdigkeiten aus der Welt der Natur oder Wissenschaft. Es waren weniger die Bilder oder Worte – ich verstand nur einen Bruchteil der fremden russischen Sprache – als vielmehr die Stimmung, der Klang, die sonore, bisweilen pathetische Stimme des Sprechers, die mich in ihren Bann zog. Das war wunderbar. Es war eine andere, fremde Welt. Heute versuche ich manchmal zu ergründen, was es eigentlich war, das mich so faszinierte. Vielleicht war – und ist – es die größere Emotionalität, die meinem Wesen mehr entspricht als die eher sachliche, zurückhaltendere deutsche Wesensart… Leider musste ich auch dorthin allein gehen, denn meinen Schulfreundinnen kamen diese Ausflüge allzu absonderlich vor.

An einem dieser Mittwoch-Filmvorführungen, ich war vielleicht 16 oder 17, lernte ich einen russischen Soldaten kennen, Mischa aus Moskau. Die sowjetischen Soldaten durften keinen persönlichen, privaten Kontakt zur deutschen Bevölkerung aufnehmen, es galt ein “Fraternisierungsverbot”. Nur bei staatlicherseits organisierten Treffen gab es manchmal rein formale Begegungen, bei Keksen und Tee, bei denen es aber wahrscheinlich kaum je zu einer Annäherung oder einem wirklichen Gespräch kam, das war ja auch nicht erwünscht. Persönliche, private Kontakte allerdings waren den Soldaten absolut verboten. Mischa war wohl Unteroffizier, wenn ich mich richtig erinnere, dadurch hatte er ein wenig mehr Freiheiten als die einfachen Soldaten, aber Kontakte zu Deutschen aufzunehmen war auch ihm nicht gestattet. Wir haben uns dennoch im Kino bekannt gemacht. Ich fand es interessant, der arme Mischa hat das natürlich falsch verstanden. Er hat sich in mich verliebt und ein Treffen vorgeschlagen. Ich war einverstanden, denn ich war daran interessiert, ein bisschen Russisch sprechen zu können. Überhaupt fand ich es schön, aber verliebt in ihn war ich nicht. Wir sind spazieren gegangen, haben uns wieder verabredet, sind wieder spazieren gegangen, als es aber einmal regnete, wurde es schwierig. Wir haben uns in meinem Hauseingang untergestellt. Das war natürlich unbequem, also lud ich ihn ein, mit hineinzukommen. Ich wußte ja nicht, dass ihm das nicht erlaubt war. Liebe aber überwindet bekanntlich alle Hindernisse und so hat sich Mischa tatsächlich über seine Anweisungen hinweggesetzt und ist mitgekommen. Er war aber sehr, sehr zurückhaltend, kein bisschen aufdringlich, saß auf der Sesselkante, auch war ja unsere Haushälterin im Haus. Mischa aber war verliebt und kam nun immer öfter, was mir dann ein wenig lästig wurde. Irgendwann hat er mir einen Heiratsantrag gemacht. Das war eine sehr unangenehme Situation für mich und sehr traurig für Mischa. Ich habe natürlich versucht, nett zu bleiben, musste ihm aber klarmachen, dass das nicht in meinem Sinne ist. Besonders schlimm war, dass er mir eine goldene Uhr schenken wollte. Sie abzulehnen, das war nicht einfach. Eine traurige Geschichte – für Mischa, denn damit endete unsere Freundschaft.

Vera Bischitzky in Georgien (1968); in ihrem dritten Studienjahr, in dem ihr eine Reise in die UdSSR verwehrt wurde (1971); auf einem Weiterbildungskurs in Rostow am Don (1980).

Foto: Archiv von V. Bischitzky

Nachtrag aus heutiger Sicht, im Jahr 2023

Seit Putins Regime einen kaltblütigen, skrupellosen, alle Gewissheiten außer Kraft setzenden brutalen Angriffskrieges in der Ukraine entfacht hat, einen Krieg voller Gräueltaten, Verwüstung und Leid, Lüge, Zynismus und Geschichtsverfälschung, sind mir alle Gewissheiten zu Staub zerfallen. 

Solange ich denken kann, habe ich mich dafür eingesetzt, der „heiligen russischen Literatur“ Gehör zu verschaffen, wie Thomas Mann im „Tonio Kröger“ so begeistert formulierte, und für Verständigung mit der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, insbesondere für Russland, zu werben und dazu beizutragen, manches rätselhaft Erscheinende im heutigen Russland zu beleuchten.

Es gibt ein sehr bekanntes Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko, das vor allem als Lied populär geworden ist, «Хотят ли русские войны» – „Meinst du die Russen wollen Krieg“. In meiner Kindheit und Jugend galt mir die Botschaft dieses Gedichts als unumstößliche Wahrheit. Oft habe ich damals mit meinem Vater das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Treptower Park besucht. Es ist zugleich ein großer Soldatenfriedhof, über siebentausend sowjetische Soldaten sind dort begraben, Russen, Ukrainer, Belarussen, Kasachen, Usbeken und Angehörige vieler anderer Nationalitäten, die gemeinsam in der Roten Armee kämpften und auch meine Eltern aus Lagerhaft und Zwangsarbeit befreiten. Sie starben, damit meine Mutter, mein Vater und dadurch auch ich leben können … Dies habe ich nie vergessen. Und heute? Heute setzt der Präsident Russlands die Invasion seiner Truppen in die Ukraine, die erbarmungslose Zerstörung von Städten und Dörfern und die Ermordung der Zivilbevölkerung mit dem Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland gleich und missbraucht dergestalt gewissenlos die Toten der Roten Armee zur Rechtfertigung seines brutalen Angriffskrieges. Mit Desinformation, Propaganda und Lügen wird ihr Andenken beschmutzt und auch Jewtuschenkos Antikriegsgedicht von 1961 besudelt.

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain.
Dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir drauf die Antwort gibt:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
[…]
Der Kampf hat uns nicht schwach gesehn,
doch nie mehr möge es geschehn,
daß Menschenblut, so rot und heiß,
der bitt’ren Erde werd’ zum Preis.
Frag Mütter, die seit damals grau,
befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?

„Nie mehr möge es geschehn“ … Heute fühle ich mich, als sei mir der Boden unter den Füßen weggezogen und mein Lebenswerk zertrümmert. 

Interview: Natalia Konradova

Unerwünschte Wege 2023