Korrespondenz mit einem Mädchen aus der DDR

Swerdlowsk befindet sich im mittleren Ural, ist die Zitadelle des Kommunismus und Sozialismus. Dort war mal der bolschewistische Funktionär Swerdlow tätig,  und es gab eine KGB-Schule. Aber als Kind hat mich das nicht interessiert, ich wurde im besten Sinne des Sozialismus und Kommunismus erzogen. Irgendwann haben wir angefangen politische Ökonomie, die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und den Zweiten Weltkrieg in der Schule durchzunehmen. Das konnte ich nicht lernen. Ich bekomme sogar Gänsehaut, wenn ich jetzt daran denke. Warum ich das nicht wollte, wusste ich damals nicht, aber nach ein paar Jahren, als die Redefreiheit kam und die Archive geöffnet wurden, verstand ich, dass es eine Lüge war. In den Jahren 1987-1988 hatte ich bereits begonnen, Bulgakow und andere Literatur, die für uns früher nicht zugänglich war, zu lesen. Ich freundete mich mit Älteren an und kam in Gruppen, in denen sich die Leute darüber Gedanken machten, was bei uns los war. Außerdem hatten wir einen der besten Rockclubs in Swerdlowsk, und ich verliebte mich in die Rockmusik, weil sie Freiheit bedeutete. 

Ich bin auf eine normale Oberschule gegangen. Ich war die Komsomolleiterin in der Klasse, die Aktivistin der Schule – ich sang überall, trat bei allen Neujahrsaufführungen auf, war die Hauptdarstellerin der Schultheatergruppe und verständlicherweise der Liebling des Direktors. Zu Sowjetzeiten gab es in den Schulen internationale Freundschaftsclubs. Ich habe kein Deutsch gelernt, aber die Deutschlehrerin hat mich einmal gefragt: „Möchtest du mit einem Mädchen aus Deutschland korrespondieren? Sie schreibt jedoch nur auf Deutsch“. Ich sagte: „Na gut, ich werde mit ihr schreiben.“ Ich war daran interessiert, jemanden aus einem anderen Land kennenzulernen. Die Lehrerin gab mir die Adresse. Ich schrieb auf Russisch und sie auf Deutsch, und mal hat meine Mama für mich übersetzt, mal ging ich zu dieser Lehrerin. Ich mochte ihren Namen: Anna-Katrin Dademasch. Sie war ein bisschen älter als ich und kam aus Bad Sulz. Wir haben sehr lange korrespondiert, bestimmt drei Jahre. 

Wir erzählten uns gegenseitig vom Leben, von der Schule und vom Reisen. Sie schickte mir oft Bilder vom Meer, Postkarten mit einer Meereslandschaft, einem Boot und einer Jacht, und schrieb oft, dass sie am Meer waren. Und ich dachte: Welches Meer gibt es denn in Deutschland? Das Schwarze Meer ist ein richtiges Meer, das ist warm, aber was gibt es denn dort für ein Meer? Ich hatte die Vorstellung, dass sie fast in Norwegen war, wo das Meer kalt ist. Aber dieses Jahr waren meine Bekannten bei heißestem Wetter dort, und sie sagen, es war in Ordnung, man kann schwimmen. Für mich ist es natürlich trotzdem die Nordsee.

Postkarte aus Heeringsdorf an der Ostsee. DDR, Anfang der 80er Jahre.

Anna-Katrin schickte mir Fotos von ihrer Familie, ihren Brüdern und Schwestern. Wir haben uns gegenseitig Päckchen geschickt. Sie schickte mir in jedem Brief deutsche Abziehbilder – das war doch die Mode! Ich habe noch eine Menge Postkarten zu Hause. Sie schickte mir Pakete voller Kaugummis und Süßigkeiten. Ich erinnere mich, dass sie mir zu Weihnachten eine echte deutsche Puppe schickte, eine weiche Puppe. In der Sowjetunion waren alle Puppen aus Plastik, aber diese war wunderschön, in einer Box und mit Kleidung. Eigentlich mochte ich keine Puppen und habe sie daher einfach als Andenken behalten. Vor ein paar Jahren schenkte meine Mutter diese Puppe einer armen Familie in Jekaterinburg. Ich habe mich sogar gefreut, denn sie stand schon seit über 30 Jahren in unserem Haus. Ich habe auch einmal eine Puppe verschickt, die meine Mutter und ich irgendwo gefunden haben. Was hatten wir denn damals? Mein Gott, der arme Ural, er war das ärmste Gebiet. Während Moskau, Leningrad und andere Städte besser dran waren, gab es hier alles auf Rationierungskarten. Da ist Jelzin schon gekommen und wir bekamen im Monat eine Karte pro Person für 200 Gramm Butter. Und ich habe mich geschämt, aber ich musste etwas schicken, also habe ich eine Puppe und irgendwelche Süßigkeiten gekauft, über Kontakte gefunden.  

Puppen aus der DDR. Foto: Elena Kashirskaya

Gegen Ende unserer Korrespondenz kamen die Briefe zerrissen an, und irgendwann begannen meine Briefe zurückzukommen. Ich hatte das Gefühl, dass etwas passiert war und wir nicht miteinander korrespondieren durften. Das war 1984 oder 1985. 

Jekaterinburg – Kiew

Ich habe 1988 meinen Schulabschluss gemacht und mich sofort an einer Schauspielschule beworben. Ich wurde nicht angenommen, also dachte ich, na gut, dann bewerbe ich mich nächstes Jahr wieder. In der Zwischenzeit besuchten die Mädels und ich zur Vorbereitung das Pädagogische Institut, und schließlich wurde ich dort aufgenommen – ich hatte nicht mehr die Kraft, mich an der Schauspielschule zu bewerben. Ich studierte, um Lehrerin für Russisch und Literatur zu werden, aber arbeitete ich nie als Lehrerin, sondern als Sachbearbeiterin der Eisenbahnverwaltung in Swerdlowsk. Ich habe dort schon während meines Studiums angefangen zu arbeiten, weil meine Mutter und ich zusammen lebten und ich mir keine Vollzeitausbildung leisten konnte.

Ich machte 1994 meinen Abschluss und trat 1995 einer Freiwilligenorganisation bei, der Frauenföderation für Weltfrieden. Das hat mein Interesse geweckt. Ich wurde von einer Freundin dorthin eingeladen – sie sah, dass ich aktiv war und dass ich mich noch irgendwo anschließen musste. Ich habe mich dort wiedergefunden. Ich hatte ein paar eigene Projekte in Altenheimen, zwei oder drei Heimen, die ich betreute. Wir veranstalteten Konzerte, Geburtstagsfeiern und unterhielten uns mit den alten Leuten. Natürlich haben wir viel gesehen – da lagen Menschen mit Behinderungen. Wir halfen Kindern mit Behinderungen, mit zerebraler Lähmung, mit Autismus, wir arbeiteten mit Kindern und ihren Familien. Aber ich musste das erfahren, um das Leben wirklich zu verstehen.

Da die Organisation international ist, reisten wir zu verschiedenen Versammlungen und Festivals. 1997 fand in Charkiw ein Freiwilligenfestival statt, auf dem ich meinen Mann kennenlernte. Er lebte zu dieser Zeit bereits in Kiew und hatte sein Medizinstudium abgeschlossen. Er wurde in der Nähe von Simferopol geboren und seine Eltern zogen in den 1970er Jahren von Sibirien auf die Krim. Bis Anfang der 2000er Jahre kam er zu mir nach Jekaterinburg, ich kam nach Kiew, und im Sommer luden mich seine Eltern auf die Krim ein. Seit 1998 besuchte ich sie jeden Sommer als ihre zukünftige Schwiegertochter; von Jekaterinburg aus drei Tage mit dem Zug. Aber ich war Bahnmitarbeiterin und hatte freie Fahrt. Im Herbst 2001 packte ich endgültig meine Sachen, kündigte und zog nach Kiew.

Kiew – Jüterbog

Wir selbst hatten kein Deutsch, aber meine Mutter, die 1947 geboren wurde, schon. Nach dem Krieg haben alle Deutsch gelernt, denn man musste ja „den Feind kennen“. Und da meine Mutter die Sprache sehr gut beherrschte, bestand ihre Lehrerin darauf, dass sie das MGIMO (Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen) besuchen sollte. Sie sah viel Potenzial in meiner Mutter: In vier Jahren lernte sie Deutsch und kann es immer noch, sie ist jetzt 75 Jahre alt. Die Lehrerin war eine Frau, die zusammen mit irgendeinem Offizier aus Deutschland kam. Er holte seine Frau, eine echte Deutsche, nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland nach Jekaterinburg, wo sie Deutsch unterrichtete. Stellen Sie sich vor, sie hat direkt nach dem Krieg in einer sowjetischen Schule gearbeitet! 

In Kiew gab es in unserer Nähe eine englische Schule und eine russische – eine der wenigen, die es damals, in den 2010ern, noch in der Ukraine gab. Die deutsche Schule war weiter weg. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber wir beschlossen, unsere Kinder auf die deutsche Schule zu schicken. In der ersten Klasse lernten sie Deutsch, in der fünften Englisch und natürlich noch Ukrainisch, und zu Hause sprachen sie mit Mama und Papa Russisch. Etwa zwei Jahre vor seinem Schulabschluss haben wir überlegt, wo unser ältester Sohn studieren sollte. Wir haben beobachtet, welche Universitäten einen Studentenaustausch anboten, damit wir für ein Jahr nach Deutschland gehen konnten. Er entschied sich für die IT-Fakultät des nach Schewtschenko benannten KPI (Kiewer Polytechnisches Institut). Und wer hätte das gedacht… Als der Krieg ausbrach, zog die Schulleiterin nach Deutschland und lud jeden, der wollte, ein, hierher zu kommen, und versprach, eine Familie zu finden, bei der man wohnen könnte. Wir wohnten bei Freunden in der Nähe von Kiew, ich betete und überlegte, was ich tun sollte. Da wurde mir klar, dass die Antwort auf meine Frage lautete: Wir müssen gehen. 

An der polnischen Grenze standen wir einen ganzen Tag lang in einem Konvoi von Flüchtlingen. Irgendwelche Busse fuhren uns näher an die Grenze, und da durften wir dann nach Polen einreisen. Von elf Uhr mittags bis sieben Uhr abends überquerten wir die Grenze. Es war Anfang März, und es war immer noch kalt. Ich kam mit einigen Freunden und deren Familien an, darunter eine Schwangere mit einem kleinen Kind. Ich sah einen Bus vorfahren und die Leute fragten, wer mitfahren wolle, also schob ich sie in diesen Bus. Und wir standen weiter. Zwei Monate bis zur Geburt, da kann sie nicht mit uns stehen. 

“Diese Leute beschützen mich”

Als ich mit Anna-Katrin korrespondierte, hätte ich nie gedacht, dass es möglich wäre, ins Ausland zu gehen. Naja, vielleicht nur in einigen Reiseträumen. Ich wusste natürlich über das Land Bescheid. Ich wusste, dass es hier viele sowjetische Soldaten gab – wir hatten Leute in der Stadt, die aus der DDR zurückgekehrt waren. Damals brachten sie eine Menge Zeug mit, all diese „Madonna“-Services – es war ein Relikt, eine Familienrarität, und ich erinnere mich, dass jeder hinter dieser „Madonna“ her war. Und mir wurde sie schon hier geschenkt.

Als der Krieg begann, kamen wir nach Deutschland. Als wir unser jüngstes Kind in die Schule einschreiben gingen, kam eine Frau, die für uns vom Russischen ins Deutsche übersetzte. Sie und ihr Mann sind ethnische Deutsche, die während der Stalinzeit unterdrückt und nach Sibirien verbannt wurden, von dort nach Kirgisistan gingen und dann nach Deutschland zogen. So lernten wir Lydia und ihren Mann Alexander kennen. Und als wir aus der Schule kamen, fingen wir an, die politische Situation zu besprechen, und sie waren für die Ukraine! Sie stammten zwar auch aus Russland, waren aber auf unserer ukrainischen Seite. Sie streiten jetzt auch mit vielen Leuten – mit Deutschen, mit ihren eigenen Leuten. Und irgendwie sind wir immer noch Freunde. Und sie haben uns hier nach Jüterbog eine Menge Dinge als Geschenke mitgebracht. Darunter auch Geschirr aus dem Service ihrer Mutter. 

Ich frage mich immer wieder, warum unser Volk nichts wie die Deutschen bereut und warum dieser Stalinismus in den 90er Jahren wieder aufgetaucht ist. Wir haben nicht erkannt, dass wir auch Aggressoren waren und sind. Als wir nach Deutschland gekommen sind und vier Monate lang bei einer deutschen Familie lebten, habe ich mit ihnen nicht über den Krieg gesprochen. Ich glaube, der Zweite Weltkrieg hat alle eingenommen und fast jeder hier war irgendwie an das System gebunden. Und meine Großväter haben hier gekämpft und bestimmt einige dieser Menschen getötet. Diese Menschen beschützen mich jetzt.

Unerwünschte Wege 2023