Ich bin in Berlin geboren. Meine Mutter lernte meinen Vater in Moskau kennen. Sie, eine Russin, verheiratet und Studentin, verliebte sich Hals über Kopf. Mein Vater, Student aus Deutschland, verliebte sich ebenso und weil man wahre Liebe nicht stoppen kann, ließ sich meine Mutter scheiden und ging im Alter von 28 Jahren mit meinem Vater nach Deutschland. Für ihre Familie war die Ehe mit meinem Vater eine Katastrophe, da mein Großvater, Held der Sowjetunion, gegen die Deutschen, die Faschisten, gekämpft hatte. Und nun heiratete seine einzige Tochter „den Feind“.
Jahre später zogen meine Großeltern nach Minsk, wo ich meine Sommerferien verbrachte, um meiner Mutter näher zu sein. Bei ihnen lernte ich Russisch. Meine Mutter sprach mit mir nie Russisch.
Meine Großeltern kamen später nach Deutschland zu Besuch und lernten die Schwiegereltern ihrer Tochter kennen, meine deutschen Großeltern. Da gibt es dieses Foto meiner beiden Großväter, Arm in Arm auf einer Bank. Mein deutscher Großvater war Sanitäter bei der Wehrmacht und kam aus italienischer Gefangenschaft zurück nach Deutschland, als mein Vater schon 5 Jahre alt war. Ich fragte mich immer, wann die beiden meinen Vater gezeugt haben mögen.
Kürzlich gab ich bei Ancestry DNA einen Speicheltest ab, um Einblick in meine DNA-Geschichte zu bekommen. Dabei stellte sich heraus, dass ich zu 68 % aus Osteuropa und Russland stamme und nur zu 25 % aus deutschsprachiger Region. Demzufolge müsste auch mein Vater Russe sein, zumindest ein „halber“. Höchstwahrscheinlich wurde meine Oma von einem sowjetischen Soldaten geschwängert. Auch wird mein Vater im Dorf nicht der einzige „halbe Russe“ gewesen sein. Es bleibt ein Geheimnis, wer dann also mein leiblicher Großvater war.
Vielleicht hat mein Vater deshalb so schnell und gut Russisch gelernt, weil er es einfach im Blut hat?
Wenn ich in Minsk zu Besuch war, nannten mich manche Kinder auf dem Spielplatz „Faschistka“. Und wenn ich hier in die Schule ging, wurde ich „Russensau“ und „Matrjoschka“ genannt. Früher waren „Mischlinge“ etwas Seltenes. Heute vermischen sich die Menschen mehr und mehr. Und das ist auch gut so.
Unerwünschte Wege 2023