Kindheit

In der Familie wurde nichts erzählt. Aber man kriegt als Kind natürlich einiges mit, zum Beispiel, dass meine Oma nach dem Krieg bei den Russen gearbeitet hat. Klar, Potsdam war eine Garnisonsstadt und es wurden Arbeitskräfte gebraucht. Meine Oma war Hauswirtschafterin bei den Russen. Dort hat sie die Wäsche gebügelt, hat gekocht und später auch in der Wäscherei gearbeitet. Das wurde nicht großartig erzählt, aber es fielen die Begriffe “in der Wäscherei” oder “bei den Russen”.

Dass mein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft war, habe ich erst nach der Wende erfahren. Ich hatte ihn darauf, glaube ich, auch vorher schon mal angesprochen, aber es blieb etwas nebulös. Ich denke, er hat sich einfach daran gehalten, dass mit Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft die Verpflichtung bestand, nicht darüber zu reden. Und sicherlich wusste ich, dass er in Gefangenschaft war und auch in Russland, aber eben nicht mehr. Alles andere habe ich erst später erfahren, nach der Wende, da haben wir uns dann intensiver darüber unterhalten.

Als kleines Kind hatte ich eher märchenhafte Vorstellungen. Da gab es den roten Stern, der irgendwo leuchtete. Und ich kann mich erinnern, mein Vater hatte eine Dienstreise in die Sowjetunion und brachte mir kleine Trachtenpüppchen mit aus allen Sowjetrepubliken, also 15 Männer und 15 Frauen aus Plaste. Man konnte damit prima spielen. Ich denke, meine frühen Erinnerungen waren relativ märchenhaft und nicht fassbar.

Als ich älter wurde, habe ich das Gefühl gehabt, in der Schule zu lernen, dass man das trennt: Es gibt etwas Offizielles und das erzählt man, und dann gibt es das, was man selber gut findet, was einem wichtig ist. Und da fiel die Sowjetunion in den offiziellen Bereich.

Wenn wir im Winter am Ruinenberg in Potsdam rodeln gegangen sind, waren dort auch die Kinder der sowjetischen Offiziere. Und es gab Klassenkameraden, die kannten die Kinder; offenbar kannten sich auch die Eltern. Das waren alles Funktionärskinder, mit denen hatte ich nicht viel zu tun. Interessant war aber, dass meine Eltern gesagt haben: „Sei bitte vorsichtig, das kann Ärger geben, pass auf!” Unsere Eltern haben uns gewarnt, und das habe ich auch verstanden. Ich glaube, da musste nicht viel ausgesprochen werden. Das kam an, dass es auch eine Macht gibt, die gefährlich werden könnte.

Und ansonsten hatte ich als Kind oder Jugendlicher keine wirklichen Begegnungen. Ich kann mich nur an eine Begegnung in Potsdam erinnern. Wenn Manöver waren fuhren regelmäßig Militärkolonnen durch die Stad; vorzugsweise nachts und oft im Winter, wenn es kalt war. Dann standen am Straßenrand die sowjetischen Regulierer, die quasi vor der Truppe herfuhren, die Truppen durch die Stadt geleitet haben und zum Schluss mit den Motorrädern wieder hinterher gesaust sind. Das waren im Prinzip aus heutiger Sicht noch Kinder, 18, 19 Jahre alt. Die haben fürchterlich gefroren und wir haben ihnen manchmal Süßigkeiten gegeben, obwohl wir noch jünger waren, auf dem Weg zur Schule oder so. Im Nachhinein habe ich gehört, dass es eigentlich verboten war, dass das für die Soldaten ein Risiko war. Aber das wussten wir natürlich als Kinder nicht.

Der Russischunterricht – eine Qual! Der war für mich extrem anstrengend, ich war nie so fremdsprachenbegabt. Ich habe auch nicht verstanden, warum man diese Sprache lernen muss. Das gehörte zum System, das war eben so, aber ich konnte dem nichts abgewinnen.

Klassenfahrt nach Moskau

Ich habe mich sehr gefreut, dass es die Möglichkeit gab, eine Reise nach Moskau zu machen, denn das Reisen im Ostblock war ja doch etwas beschränkt. Und natürlich waren auch Länder wie Ungarn interessant, keine Frage. Aber in die Sowjetunion zu reisen war schon etwas Besonderes. Das war weit weg und irgendwie auch letztlich eine andere Kultur. Das fand ich toll, dass das ging. Dazu kam aber wieder diese zweite Ebene: 1984 – die Jahreszahl ist schon Programm. Ich habe in diesem Jahr heimlich Orwells 1984 gelesen. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Es gab die atomare Aufrüstung. Und das war für mich auch eine sehr graue, düstere Zeit. Letztendlich haben wir den Kampf der Systeme gesehen, die Aufteilung der Welt. Für mich war also auch klar: Ich fahre jetzt in die Hauptstadt eines dieser Machtzentren, man könnte auch sagen in das „Reich des Bösen”. So habe ich es vielleicht nicht gesehen, aber auf jeden Fall war dort auch wieder dieses bedrohliche Element zu sehen. Ich war sehr interessiert und offen, habe mich drauf gefreut, hatte aber auch eine gewisse düstere Vorstellung.

Was für mich ein großer Widerspruch war: Wir waren in einem modernen Hotel am Stadtrand und ich glaube, man hat versucht, uns eine gute Unterkunft zu geben. Ich glaube auch, man hat versucht, uns dort gut zu bewirten. Aber es war im Prinzip armselig. Und es war eigentlich ganz fürchterlich und trist. Ich kann mich erinnern, dass es morgens immer Sirupwasser gab, ganz eigenartig. Ich habe den guten Willen gesehen, aber das war irgendwie Show und Fassade.

Wir waren auch auf dem Roten Platz. Klar, das ist natürlich ein Programmpunkt für Touristen. Aber ich fand es dort sehr bedrohlich. Es gab dieses große Stahltor an der Einfahrt zum Kreml, wo die Karossen rein und raus fuhren. Die Ampeln wurden geschaltet, die Straßen gesperrt, man konnte das beobachten. Ich kann mich erinnern, dass ich fotografiert habe, diese Szenerie und auch die Polizisten dort, und die wollten mir sofort die Kamera wegnehmen. Aber ich habe mich – was ich dann immer gemacht habe – dumm gestellt. Ich hab gesagt: “Wieso? Ich bin Tourist, ich will doch nur fotografieren!”, was auch funktioniert hat. Die Besichtigung des Mausoleums war einfach Pflichtprogramm, was aber irgendwie auch grau, düster und schlimm war aus meiner Sicht.

Was mich erstaunt hat, was ich so nicht erwartet hatte, war der Grad an Umweltverschmutzung. Wir waren einen Tag etwas außerhalb in einem Kloster. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, in welchem das war. Von dort konnte man auf die Stadt blicken. Ich fand es schlimm zu sehen, unter welcher Dunstglocke Moskau lag, wie der Smog dort lag, wie kaputt die Bäume waren.

Ich kann mich an einen Punkt des offiziellen Programms erinnern, da waren wir auf einem Ausstellungsgelände, wo unter anderem auch die sowjetische Raumkapsel ausgestellt war, was mich sehr beeindruckt hat. Also von daher fand ich auch das offizielle Programm durchaus ganz interessant.

Vor dem Puschkinmuseum
Foto: M. H.

Durch die Vermittlung eines Klassenkameraden haben wir in Moskau zwei etwa gleichaltrige junge Mädchen kennengelernt, Katja und Nina, die uns Moskau ein bisschen von der anderen Seite gezeigt haben. Wir waren in der Tretjakow-Galerie. Wir waren in dem Haus, in dem Der Meister und Margarita spielt. Das gehörte nicht zu der offiziellen Tour, sondern das waren Orte, die wir sonst nicht gesehen hätten.

Skulptur Schwerter zu Pflugscharen
Foto: M. H.

Besonders beeindruckt mich, dass im Hof der Tretjakow-Galerie eine kleine Replik des Schwerter-zu-Pflugscharen-Denkmals stand. Das Original ist ja von einem russischen Künstler für die UNO in New York hergestellt worden und steht dort auch, so weit ich weiß, nach wie vor. Das war für mich sehr wichtig, weil das zu dieser Zeit ’84 ein Symbol für die Friedensbewegung der DDR war. Und es verboten war, dieses Symbol zu tragen. Was eigentlich auch die Schizophrenie zeigt, weil es nur darum ging, dass man abrüsten möchte und dass man Waffen nicht verwenden sollte, sondern zu friedlichen Zwecken nutzen und das ja auch die offizielle DDR-Staatsdoktrin war. Also eigentlich völlig unverständlich. Und für mich war es daher ganz bedeutend, dieses Denkmal zu sehen. Was mich erstaunt hat, ist, dass es dort einfach stand und nicht verboten war. Und ich weiß bis heute nicht, warum es nicht in irgendwelchen Asservatenkammern verschwunden ist. Ich fand das ganz außergewöhnlich, das ist mir wirklich ganz lebhaft in Erinnerung geblieben.

Programm Obraszow-Puppentheater
Archiv M. H.

Ich habe die beiden Mädchen als sehr warmherzig erlebt und war sehr beeindruckt, wie sie uns ihre Heimatstadt gezeigt haben. Das hat mir bestätigt, dass egal wie die Staaten oder die Systeme aussehen, man immer Menschen trifft, die unglaublich lieb und freundlich sind, mit denen sich Freundschaften entwickeln können. Und genau das habe ich dort auch gefunden.

Eintrittskarte Musiktheater
Archiv M. H.

Ich weiß nicht mehr, was die Lehrer zu unseren privaten Verabredungen in Moskau gesagt haben. Ich glaube, sie waren nicht einverstanden, aber mir war das egal. Ich habe nur in Erinnerung, dass es nicht gewollt war oder nicht besonders gut angesehen wurde. Aber für mich hat das überhaupt keine Rolle gespielt. Für mich gab es da keine Alternative. Selbstverständlich waren wir mit den beiden verabredet und wir haben was zusammen unternommen und das war für mich eine ganz klare Sache. Letztendlich ist mir vor allem die Zeit in Erinnerung geblieben, die wir zusammen mit den beiden Mädchen verbracht haben. Es gab diesen Kontrast, diese Trennung zwischen privat und offiziell. Und letztlich, dass es immer auch Freunde gibt und Menschen, mit denen man gerne zusammen ist und etwas unternimmt. Es war im Prinzip ein Wechselbad zwischen einem doch sehr militärisch anmutenden Programm und der Freundlichkeit der beiden, die uns die Stadt gezeigt haben. Aber dieses Zweigeteilte war mir nicht fremd. Das war ja in Ostberlin nicht anders. Also im Prinzip kannte man das ja.

Mein Bild von der Sowjetunion hat sich durch die Reise nicht stark geändert. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass man im Potsdamer und Berliner Raum wunderbar Westsender empfangen konnte, ich zu der Zeit wirklich interessiert an Berichten über die Sowjetunion war und westdeutsche Korrespondenten viel von dort berichtet haben. Es war interessant, in dieses Land zu reisen und von der Sowjetunion eine kleine Innenansicht zu bekommen. Aber diese Innenansicht war auch nicht so weit entfernt von der, die ich von der DDR hatte. Die Museumsbesuche fand ich wirklich beeindruckend; es hat mir unheimlich viel Freude bereitet, die Kultur zu sehen, die Architektur zu sehen. Das fand ich außergewöhnlich, aber es hat nicht die Sichtweise auf diesen Staat geändert.

Verhinderte Freundschaft

Im Nachhinein hatten wir noch mal versucht, mit den beiden Mädchen Kontakt aufzunehmen. Wir hatten ja die Adressen und schrieben Briefe, und einen Brief habe ich tatsächlich auch bekommen. Ich habe auch geschrieben, aber es ist danach nichts mehr passiert. Das lässt sich nicht aufklären, aber mein Eindruck war, es war nicht erwünscht, dass dort ein Briefverkehr entsteht oder sich weitere Freundschaften ergeben. Ich war traurig und ich hätte nicht gedacht, dass sich daraus nicht eine weitere Freundschaft entwickelt. Das habe ich schon vermisst.

Briefumschlag
Archiv M. H.

Ich habe tatsächlich noch diesen einen Brief aufbewahrt. Er hat fast 40 Jahre in einer Kiste gelegen. Ich wusste nicht, dass es ihn noch gibt. Interessanterweise hat diese Karte Briefmarken und ist dann aber in einen Umschlag gesteckt worden. Ich vermute, dass unter Umständen die Karte so gar nicht angekommen wäre, sondern dass dieser Briefumschlag mitgeholfen hat, dass sie überhaupt angekommen ist. Es gibt keine Absenderadresse. Auf der Rückseite des Umschlags sind Striche über den Klebestellen. Das haben wir unter Freunden in der DDR auch gemacht, weil wir dachten, dass das eine Möglichkeit sei zu vermeiden, dass sie kontrolliert werden, dass man das sieht, wenn die geöffnet werden.

Ansichtskarte Puschkin-Museum
Archiv M. H.

Es ist eine Karte vom Puschkin-Museum. „Guten Tag, Matthias. Das ist dein Lieblings-Museum für Bildende Künste [im Original deutsch]. Nur ist es dort Sommer. Wie geht es dir? Was macht das Abitur? Bei uns ist alles in Ordnung. Auf Wiedersehen, Katja. Ich wünsche Glück für das Abitur.“ Es war der einzige Brief, den ich bekommen habe. Für mich macht dieser ganze Brief den Eindruck, dass es wirklich ein ganz lieber Gruß ist. Aber es ist auch irgendwie ein Hinweis: „Wir brauchen nicht weiter zu schreiben.”

Jetzt fällt mir doch wieder was ein. Und zwar wollten wir, dass Nina und Katja uns in der DDR besuchen. Wir, die Klassenkameraden, mit denen wir da zusammen unterwegs waren. Und das war nicht möglich. Aber die Hintergründe dessen weiß ich nicht. Wir haben uns das gewünscht, wir haben immer gesagt: „Das wäre einfach schön.” Wir haben dort die Gastfreundschaft genossen und es war wirklich ganz toll. Wir haben viel gesehen und für uns war es selbstverständlich, dass es einen Gegenbesuch geben sollte, dass die beiden auch zu uns in die DDR kommen, dass wir ihnen Potsdam und Berlin zeigen. Doch das war nicht möglich, das ging nicht. Warum, weiß ich nicht. Es hat nie funktioniert.

Ein bisschen Wehmut ist immer geblieben. Das ist vielleicht genau diese Frage: warum das so schwierig sein kann, warum das ein Problem ist, warum sich junge Leute nicht einfach treffen können. Was ist das eigentlich für ein System dahinter?

Deutsch-Sowjetische Freundschaft

Ich habe nach der Reise keine Kontakte zu damaligen Sowjetbürgern oder dann später auch Russen oder Ukrainern oder was auch immer gehabt. Das ist eigentlich außergewöhnlich, weil offiziell in der DDR die Freundschaft gepredigt wurde, die deutsch-sowjetische Freundschaft, die Freundschaft innerhalb der Länder des Ostblocks. Und daran merkt man eigentlich, wie wenig das ernst gemeint war. Aus der offiziellen deutsch-sowjetischen Freundschaft ist für mich eigentlich nichts hängengeblieben.

Ich war Mitglied in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und der einzige Grund war – das war während meines Studiums in Dresden – dass man eine gesellschaftliche Tätigkeit nachweisen musste. Und das war die einfachste gesellschaftliche Tätigkeit, bei der man einen kleinen Beitrag bezahlt hat und Marken in sein Büchlein eingeklebt bekommen hat, und damit hatte man seinen gesellschaftlichen Auftrag erfüllt.

Interview: Uta Gerlant

Unerwünschte Wege 2023