Briefe der Tochter von Papas Arbeitskollegen
Mein Papa hat sich mit englischer Literatur beschäftigt, hat auch ein Studium an der Philologischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität absolviert, promovierte in britischer Literatur und arbeitete im Verlag „Progress“. Ich kann nicht mehr einordnen, wo er genau seinen Kollegen Karl-Heinz aus Ostberlin kennengelernt hat, einen Spezialisten für englische Literatur – wahrscheinlich auf irgendeiner Konferenz. Sie haben sich gut verstanden und Kontakte ausgetauscht.
Dieser deutsche Kollege hatte, wie es sich für einen Deutschen gehört, ein sehr aktives Leben.Im Urlaub sind sie immer irgendwohin gefahren, unter anderem in die UdSSR, in den Kaukasus zum Skifahren. Natürlich sind sie über Moskau gefahren und besuchten uns. Das war Ende der 1970er – Anfang 1980er. Und in der Zwischenzeit haben wir Briefe und Grußkarten ausgetauscht.
Als ich in der dritten Klasse war, kam im Brief für Papa noch ein Brief, geschrieben auf Englisch in einer kindlichen Schrift mit irgendwelchen Bildern, die mit Filzstiften gemalt waren. Es stellte sich ‘raus, dass die Tochter von Papas Arbeitskollegen mir einen Brief darüber geschrieben hat, dass sie in Berlin wohnt, ein Jahr älter ist als ich und in der Schule Englisch lernt. Sie hat ihre Hobbys und Interessen beschrieben und gefragt, ob ich ihr nicht antworten möchte. Ich antwortete ihr, da ich in einer englischen Schule war und zu diesem Zeitpunkt schon eine Antwort schreiben konnte. Das war 1983.
In ihrer Familie waren zwei Mädchen, eine praktisch genau so alt wie ich und die andere fünf Jahre älter. Mir wurden Sachen von ihnen geschickt – eigentlich nichts Außergewöhnliches, aber es wurde immer betont, dass die Sachen aus Westdeutschland sind, also gute Sachen von guter Qualität. Ich habe mich natürlich über diese Pakete gefreut. Aber ich wusste nicht, wie die Töchter aussahen – ich habe sie nie gesehen und Fotos zu schicken war damals – warum auch immer – nicht angebracht.
Das erste Treffen
Jedenfalls haben wir 1983 angefangen, einander Briefe auf Englisch zu schreiben und schrieben uns gegenseitig sechs Jahre, bis wir 16 wurden. Ich war, glaube ich, in der zehnten Klasse oder vielleicht habe ich gerade die Schule beendet, als Marit zum ersten Mal nach Moskau gekommen ist. Das war 1988 oder 1989, also war ich 16 und sie 17, als wir uns das erste Mal sahen. Wir fuhren nach Sagorsk, wie es üblich ist, sahen verschiedene Sehenswürdigkeiten, zum Beispiel die Künstlerkolonie Abramzewo, ich kann mich nicht genau erinnern. Ich habe sie meinen Freundinnen vorgestellt und wir sind zusammen in Moskau ausgegangen, haben uns alle zusammen auf Englisch unterhalten und Spaß gehabt. Und ein Jahr später bin ich mit Mama nach Berlin gefahren. Das war unsere erste Reisenach Berlin und das war gerade nach der Wende. Das heißt, wir sind überall ‘rumgefahren und man konnte schon unbesorgt im Westen telefonieren. Ich glaube, wir sind nach Hamburg gefahren.
Jedenfalls sind wir mit dem Zug in Berlin angekommen und ich war zum ersten Mal im Ausland – außer dem Baltikum, das damals nicht als Ausland galt. Und sie hatten in Ostberlin ihr eigenes Haus – ein kleinesund bescheidenes, überhaupt keine Villa. Aber damals war das für einen sowjetischen Bürger natürlich unglaublich – ein eigenes Haus. Ich habe erstmals Joghurt probiert, das war toll. Naja, und überhaupt gab es viele Eindrücke. Gesprochen haben wir Englisch.
Auslandsstudium
Zu dieser Zeit lernte Marit einen russischen Freund aus einer Militäreinheit kennen – sie lebte in der Nähe von Karlshorst, wo es Militäreinheiten gab. Ich weiß nicht mehr, wie es ausgegangen ist, aber sie ging zur Universität, um Englisch und Slawistik zu studieren, und begann, Russisch zu lernen. Sie schloss ihr Studium mit ausgezeichneten Kenntnissen in drei Sprachen ab: Englisch, Französisch und Russisch. Und sie lernte vor allem Russisch, indem sie regelmäßig nach Moskau reiste. Sie war auch Austauschstudentin in Odessa. Und so setzte sich diese Korrespondenz, die 1983 begann, auf die eine oder andere Weise fort – in Form von Grußkarten oder Postkarten von einigen Reisen.
Und dann ging mein Freund aus Moskau nach Deutschland, um dort zu studieren, und ich fing auch an dorthin gehen zu wollen, obwohl es damals nicht einfach war – es war schwer, ein Visum zu bekommen, man brauchte Geld. Das war bereits 1991. Also bekam ich eine Einladung von Marit und besuchte sie in Berlin, wo ich auch meinen Freund traf. Damals gab es noch keine Instant Messenger oder Skype, und es war schwierig, mit einer Person zu kommunizieren, die in einer anderen Stadt studierte, aber ich wollte mich austauschen. Und da hatte ich schon angefangen, Deutsch zu lernen, also habe ich an einem Wettbewerb für ein Stipendium an der Humboldt-Universität teilgenommen. Der Wettbewerb fand an dem Institut für Romanistik und Germanistik der philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau statt. Unerwartet bestand ich und kam nach Berlin, um sechs Monate lang zu studieren. Aber ich habe hier zwei Jahre lang studiert anstatt der sechs Monate, die im Rahmen des Austauschs vorgesehen waren. Das ging, wenn man eine Wohnung hatte und den Lebensunterhalt bestreiten konnte. Es war auch möglich, das Studium in Berlin zu beenden, aber ich habe mir damals kein solches Ziel gesetzt. Also kehrte ich nach Moskau zurück.
Das Leben in einer Stadt
Marit beendete ihr Studium hier und reiste nach Russland – manchmal, um uns zu besuchen, manchmal nicht. Irgendwann heiratete sie dann in St. Petersburg, und ich war ihre Trauzeugin bei der Hochzeit. Nach einiger Zeit gingen sie nach Berlin, lebten zusammen, aber dann trennten sie sich. Ich heiratete in Moskau, und jetzt kam Marit zu unserer wachsenden Familie, als meine Tochter geboren wurde und wir fuhren zusammen in den Urlaub. Dann lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen, sie bekamen ein gemeinsames Kind, und schon war es Zeit für mich und meine Kinder, dieses kleine neugeborene Mädchen kennenzulernen. Und als es vier Jahre alt wurde, lebten wir bereits hier – wir sind 2015 nach Berlin gezogen. Dann beschlossen sie schließlich zu heiraten, und ich war erneut Trauzeugin bei ihrer zweiten Hochzeit. Wir leben seit sieben Jahren in derselben Stadt, wir feiern gemeinsam Feiertage, verbringen Zeit miteinander, und unsere jüngsten Kinder sind befreundet. Und es stellt sich heraus, dass es selbst unter meinen Freunden in Moskau ziemlich wenige gibt, die mich seit so vielen Jahren kennen. Ich kannte noch eine Reihe anderer Leute aus England oder Schweden, auch durch meinen Vater, aber das ist alles früher oder später erstorben. Doch bei Marit war das nicht der Fall.
Interview: Natalia Konradova
Unerwünschte Wege 2023